Der Kuss des Jägers
Uniform durch die Pariser
Innenstadt.«
»Ja, ja, ich hab’s verstanden.« Ungeduldig begann Jean, in der
Bibliothek auf und ab zu gehen.
»Bist du auch sicher, dass dich niemand beim Reingehen gesehen hat?
Falls die Bullen die Nachbarn befragen, will ich …«
»Mich hat keiner gesehen. Ich bin durch den Hinterhof und hab mich
im Schatten gehalten. Da sind nachts nur Ratten und Katzen unterwegs.«
»Du bist durch die Hintertür? Aber du hast doch gar keinen
Schlüssel.«
»Es lag genug Draht in dem ganzen Unrat herum, der sich in so einem
Innenhof sammelt, und das Schloss ist nicht gerade Hightech.« Was Jean noch für
eine Untertreibung hielt, denn es stammte wohl aus der Zeit vor dem letzten
Krieg.
»Gut, dass kein normaler Mensch hier einbrechen will«, meinte Alex
und beschloss wahrscheinlich gerade, es auszutauschen. »Okay, nehmen wir an,
dass dich niemand bemerkt hat. Dann solltest du auf dem gleichen Weg auch
wieder verschwinden. Das ist wirklich der sicherste. Aber erst mal muss ich dir
was anderes zum Anziehen besorgen. Oh, du hast den Möchtegernbart abgenommen.
Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, was mit deinem Gesicht nicht stimmt.
Glaubst du, das reicht? Soll ich dir noch eine Perücke kaufen oder so?«
Jean versuchte, sich sich selbst mit einer Perücke vorzustellen,
doch das Bild geriet stets zu etwas Albernem. »Nein, aber vielleicht sollte ich
mir die Haare dunkel färben und eine Sonnenbrille aufsetzen.«
»Kann ich dir alles besorgen, aber wo wirst du unterkommen?«
»Ich dachte an Florence.«
»Wer war das noch gleich? Ach, die Florence?« Alex’ Skepsis war unüberhörbar.
»Warum nicht? Sie schuldet mir Geld, und sie beherbergt ständig die
Illegalen, die in ihrem Laden schuften.«
»Aber du kannst ihr nicht trauen. Gerade weil sie ständig an der Pleite entlangschrammt.«
»Mag sein. Aber wenn man selbst Dreck am Stecken hat, rennt man
nicht so schnell zur Polizei.«
»Trotzdem. Das gefällt mir nicht. Sollen wir dich nicht lieber unter
falschem Namen in einem Hotel einmieten?«
»Dazu bräuchte ich erst mal einen falschen Pass.«
»Auch wieder wahr.«
Jean unterbrach sein Auf und Ab und setzte sich. Langfristig würde
er um einen gefälschten Ausweis nicht herumkommen, doch es gab Dringenderes. Er
brauchte ein unregistriertes Handy oder – noch besser – mehrere unregistrierte SIM -Karten zum Austauschen, was in gewissen Läden kein
Problem war, und er musste sich Gedanken darüber machen, wie er an Geld kam.
»Also wenn dir sonst nichts mehr einfällt, dann mach ich mich jetzt
auf die Socken«, verkündete Alex.
»Ja, danke, du bist ein echter Freund.« Er sah ihm nach, wie er zur
Tür ging. »Ach ja, Alex? Hast du irgendetwas über diesen Schlüssel
herausgefunden, das ich mir ansehen könnte, wenn ich schon hier bin?«
»Meine heißeste Spur sind die Henochischen Schlüssel des Golden
Dawn. Damit sollen doch angeblich jenseitige Ebenen geöffnet werden.«
In denen Engel oder nach Lovecrafts Visionen wohl
eher Dämonen hausen sollen – auch wenn er sie anders genannt haben mag.
Als Sophie mit ihren Einkäufen beladen aus der Rue
Mouffetard zurückkehrte, erwartete ein Teil von ihr, die Rothaarige noch immer
im Café an der Ecke sitzen zu sehen. Stattdessen hatte ein Pärchen ihre Plätze
eingenommen und unterhielt sich angeregt über Teller mit pain
au chocolat hinweg. Ob der Ermittler, der sie heute observierte,
Verstärkung angefordert hatte, damit jemand die gesuchte Tatverdächtige
verfolgte? Oder hatte er bei seinem Vorgesetzten nachgefragt, welche Person
dringender im Auge behalten werden musste? Sie stellte fest, dass sie zu wenig
über Polizeiarbeit wusste, um solche Fragen zu beantworten. Waren die Ermittler
in Krimis nicht immer zu zweit? Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wichtig
genug zu sein, dass man gleich zwei Leute für ihre Überwachung abstellte.
So oder so hatte die Rothaarige die B. C. durch das Treffen mit ihr erst auf sich aufmerksam gemacht und würde sicher
bald Besuch von Capitaine Lacour bekommen. Darüber, dass sie Caradecs Geliebte
gewesen war, konnte Sophie nur den Kopf schütteln. Hatte Gournay nicht eine
Ehefrau erwähnt? Aber für Satanisten gehörte Ehebruch wahrscheinlich noch zu
den harmloseren Sünden. Ob Caradecs Frau mehr über sein offenbar neues
Interesse am Louvre wusste? Es kam darauf an, ob sie überhaupt in seine
Machenschaften eingeweiht war. Sophie konnte es nicht recht einschätzen. Für
sie war es
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