Der Kuss des Jägers
Es war, als
breite sich in seinem Kopf ein Lageplan des Gefängnisses aus, und die Anordnung
der vielen Flügel des sternförmigen, von einer Mauer und Stacheldraht umgebenen
Gebäudes, die ihm bis dahin ein Rätsel geblieben war, ergab auf einmal Sinn.
Die Flucht erschien ihm nun realer, machbarer als zuvor. Unwillkürlich
beschleunigte er seine Schritte. Ruhe bewahren!
In nächtliches Dämmerlicht getaucht, öffnete sich vor ihm eine der
hohen, langgezogenen Hallen, die zu einer Seite von Fenstern, zur anderen von
einem mehrstöckigen Zellentrakt begrenzt wurde. Die einzelnen Etagen waren zur
Halle hin offen. Nur eine Balustrade säumte den Gang, der jeweils vor den
Zellentüren entlangführte. Schnarchen und schweres Atmen, das Rascheln von
Decken und Laken, vereinzelte leise Stimmen und das Rauschen einer
Toilettenspülung vermengten sich mit Jeans hallenden Schritten. Hoch über ihm
schlenderte ein Aufseher hinter einem der Geländer, die Augen auf das Innere
der Zellen gerichtet. Rasch senkte Jean wieder den Blick, sah geradeaus und
bemühte sich auszusehen, als ginge er einer wichtigen Aufgabe nach.
Erst als er hinter dem Ausgang angekommen war, merkte er, dass er
den Atem angehalten hatte. Was würde er sagen, wenn ihn ein vermeintlicher
Kollege ansprach? Grüßen, kurzer Blickkontakt, aber nicht zu hastig wegsehen,
den Eindruck erwecken, man sei gerade in eiligem Auftrag unterwegs. Irgendwie
so musste es gehen.
Er trat durch eine weitere, sich auf wundersame Weise öffnende Tür,
folgte dem nächsten Gang, bog um die Ecke, wie sein neuer innerer Plan es
vorgab. Dann lag sie vor ihm, eine der Sicherheitsschleusen. Raphael konnte ihn
nicht einfach vor den Augen des Wachpersonals hindurchlassen. Zwei Männer und
eine Frau, die wohl nicht alle hier Dienst hatten, sondern nur zu einem Plausch
im engen Räumchen des Pförtners hängen geblieben waren, unterhielten sich
angeregt hinter der Drahtglasscheibe.
Mit trockener Kehle näherte sich Jean der Gittertür und drückte auf
den Knopf, mit dem die Öffnung angefordert wurde. Neugierige Blicke wandten
sich ihm zu. Er nickte grüßend und rang sich ein kleines Lächeln ab. Seine Züge
kamen ihm widerspenstig, wie verhärtet vor. Die Frau und einer der Männer
schenkten ihm keine weitere Beachtung, doch der Pförtner runzelte die Stirn.
Seine Hand schien eine Ewigkeit über der Öffnen-Taste zu schweben. Kannte er
jeden einzelnen Mitarbeiter? Wunderte er sich, dass ihm dieses Gesicht nicht
bekannt vorkam?
Gerade als Jean einfiel, dass ein echter Wärter nun bereits
ungeduldig aussehen würde, summte der Mechanismus, der die Tür in Bewegung
setzte. Er ging hindurch – hinter ihm schloss sich das Gitter wieder – und trat
mit unbewegter Miene vor die zweite Tür der Schleuse. Wie beiläufig wandte er
sich erneut zur Glasscheibe um. Der Pförtner starrte ihn immer noch an.
Sophie hielt vor dem Haus inne und überlegte, ob sie in
den nächsten Supermarkt gehen oder zu den Marktständen in der Rue Mouffetard
pilgern sollte. Für Madame Guimard und sich Lebensmittel einzukaufen und vier
Stockwerke hochzuschleppen, gehörte zwar nicht zu ihren
Lieblingsbeschäftigungen, doch nach den letzten Tagen freute sie sich, einmal
etwas völlig Normales tun zu dürfen. Der Himmel war bewölkt, und es sah nach
Regen aus, aber es war wenigstens nicht mehr so heiß. Lara hatte ihr eine SMS geschickt, dass Frau Michels noch mindestens zwei
Tage fehlen würde. Vor dem Wochenende war demnach nicht mit ihr zu rechnen. Zum
Glück hatte Madame Guimard nichts dagegen, auch Lara bei sich aufzunehmen. Sie
erwog sogar, endlich zu ihrer Familie aufs Land zu fahren, wenn eine Freundin
zu Besuch kam, die Sophie an ihrer Stelle beistehen konnte.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand eine Frau und starrte
zu ihr herüber. Mit dem aufgesteckten roten Haar, ihren üppigen Kurven, die das
luftige Sommerkleid zu sehr ausfüllten, und der großen Sonnenbrille, hinter der
sie ihr Gesicht versteckte, hätte sie ebenso gut Einheimische wie Touristin
sein können, aber warum hätte sie dann so gaffen sollen? Die
ist ja total unauffällig, dachte Sophie ironisch. Wenn die B. C. keine dezenteren Ermittlerinnen mehr aufzubieten hatte …
Sie erkannte die Frau im gleichen Augenblick, da sich jene in
Bewegung setzte und auf sie zukam. Vor Überraschung konnte sie sich nicht
rühren, fragte sich verwirrt, ob sie einen Angriff zu befürchten hatte und
weglaufen oder besser mit ihr sprechen
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