Der Kuss des Jägers
Mittagssonne so grell, dass die
Sonnenbrille mehr als nur Teil seiner Tarnung war, doch durch die getönten
Gläser konnte er noch schlechter erkennen, wer sich im Schatten der Bäume
aufhielt. Wie erwartet war um diese Tageszeit nicht viel los. Die meisten
Touristen saßen vermutlich beim Essen, und viele Einheimische, die sonst ihre
Mittagspause am Fluss verbrachten, blieben aus, weil sie in den Ferien waren.
Angesichts der Hitze beschränkten sich die Jogger auf die Morgen- und Abendstunden,
wie er aus eigener Erfahrung wusste. Er trabte die Treppe hinab und hielt
weiter nach verdächtigen Gestalten Ausschau, obwohl er nicht glaubte, dass Alex
beschattet wurde, sonst hätte er sich nicht an einem öffentlichen Ort mit ihm
verabredet. Dennoch wollte er nicht leichtsinnig sein. Zu viel stand für ihn –
und die anderen! – auf dem Spiel.
Während er am Ufer entlangschlenderte, fuhr gelegentlich ein
Radfahrer vorbei, und drei Clochards belagerten mit ihren vollgestopften
Plastiktüten zwei Bänke im Schatten. Hinter ihm näherte sich das Tuckern eines
großen Dieselmotors, dann schob sich auch schon ein moderner Lastkahn in Sicht,
der für die gewundene Durchfahrt zwischen den beiden Inseln viel zu lang wirkte
und dennoch hindurchpasste. Wellen klatschten ans steinerne Ufer, bis sich das
Wasser wieder beruhigt hatte. Einige schwitzende Spaziergänger und der Blick
auf Notre-Dame vervollständigten das Bild. Ein kleines Mädchen an der Hand der
Mutter schielte neugierig auf Jeans Verband, unter dem die neu genähten Wunden
endlich gut verheilten. Bald würde er jemanden brauchen, der ihm half, die
Fäden zu ziehen. Ob nun Gaillards Segen oder das Antibiotikum die Wende
gebracht hatte, wagte er nach wie vor nicht zu entscheiden.
Allmählich beschlich ihn Unruhe. War Alex doch nicht gekommen? Mit
gerunzelten Brauen spähte er zu den Bänken unter den Bäumen hinüber. Auf jeder
von ihnen saß mindestens eine Person – was sie für ihre Zwecke unbrauchbar
machte, denn sie wollten keine Zuhörer –, doch Alex befand sich nicht darunter.
Vor ihm lockte bereits der schattige Bogen unter der nächsten
Brücke, als er die zusammengesunkene Gestalt in kariertem Kurzarmhemd auf einer
Bank in der prallen Sonne entdeckte. Erleichtert hielt er auf seinen Freund zu.
Alex blinzelte gegen das grelle Licht an, das vom Glitzern des Wassers noch
verstärkt wurde. Neben ihm zerflossen Mayonnaisereste in einer offenen, leeren
Sandwich-Schachtel. Schweiß perlte auf seiner Stirn und lief über das Gesicht
nach unten, wo ihm das Hemd bereits am Leib klebte.
»So viel Sonne könnte deinem milchigen Teint schaden«, meinte Jean
und ließ sich – nicht zu nah – neben ihm nieder, ohne ihn lange anzusehen. Die
steinerne Sitzfläche war so aufgeheizt, dass er das Gefühl hatte, sich auf
einen Ofen zu setzen.
»Bin ich froh, dass du deinen Humor nicht verloren hast«, gab Alex
mit geröteter Miene zurück, wobei er auf den Fluss starrte, als rede er mit
sich selbst. »Mir macht mehr Sorge, dass ich schmelzen könnte.«
»Vampire schmelzen nicht, sie zerfallen zu Staub.«
»Ich wollte es dir nie sagen, aber ich bin kein Vampir, sondern ein
Pinguin.«
»Die haben aber schwarze Gesichter.«
»Pedant!«
Grinsend verkniff sich Jean das Lachen, das an seinen Muskeln zog.
Es sollte schließlich von Weitem so aussehen, als ob sie überhaupt nicht miteinander
sprachen.
»Wirklich alles klar bei dir?«, wollte Alex wissen.
»Ja, alles okay.«
»Dann hat Florence dich also aufgenommen?«
»Sie war nicht gerade erfreut, aber ich hatte die besseren
Argumente.«
Der Laut, den Alex von sich gab, verriet, dass auch er nicht
sonderlich erfreut war, doch er sagte nichts.
»Vorläufig vertraue ich ihr«, schränkte Jean ein. Wir werden sehen, wie lange.
»Sophie war gestern im Laden und hat mir von dieser Spur in den
Louvre erzählt. Das ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wie …«
»Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn sie nichts findet. Ich
hab sie mit diesem Engel in die Mesopotamien-Sammlung geschickt. Wenn
irgendjemand den Schlüssel erkennen kann, dann er.« Aus dem Augenwinkel sah er,
wie Alex nachdenklich nickte. »Der Schlüssel ist nicht der Grund, warum ich
dich hergebeten habe.«
»Sondern?«
»Erinnerst du dich an den Toten in der Rue des Barres?«
»Ja, danke, das Foto, das du mir gezeigt hast, war unvergesslich.
Vor allem in Kombination mit der Tatsache, dass der Typ ein paar Stunden vorher
noch bei uns
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