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Der Kuss des Jägers

Der Kuss des Jägers

Titel: Der Kuss des Jägers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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dem Mann gemacht hatten, den sie liebte, waren unwiederbringlich verloren,
der Körper nur eine verwirrte Hülle, die der Engel überstreifte, um in dieser
Welt zu bewirken, was ihm ohne Körper nicht möglich gewesen wäre. Aus einem
Grund, der ihnen verborgen war, fühlte er sich ihr auf eine Art verbunden, die
nichts mit körperlicher Anziehung zu tun hatte, aber über die gewissermaßen
übliche Liebe der Engel zu den Menschen hinausging. Er hatte es ihr oft genug
gesagt, und seine Zärtlichkeit war über jeden Zweifel erhaben. Die Frage ist, ob ich einen Engel lieben kann.
    Ihr wurde bewusst, dass sie noch immer verloren zwischen Bäumen,
Passanten und einem Kiosk auf dem breiten Bürgersteig des Boulevard
Saint-Michel herumstand, und ging hastig weiter. Ihre Beobachter von der B. C. mussten sie allmählich ernsthaft für wunderlich
halten. Während sie die Treppe zur Métro hinablief, flackerten erneut die
Zweifel auf, ob sie noch bei Verstand war. Die Stufen unter ihren Füßen waren
ganz sicher echt, ebenso wie das schrille Kreischen der Bremsen und die
Menschen, die sie anrempelten, als sie bedächtig wie eine Tagträumerin
einstieg. Da sie nur zwei Stationen mitfahren wollte, blieb sie bei der Tür
stehen und hielt sich an einer Stange fest. Rappelnd setzte sich der Zug in
Bewegung und ließ sie schwanken. Für einen Moment schloss sie die Augen. Bitte, falls es irgendjemanden gibt, der zuhört: Ich will nicht
verrückt sein! Wenn ich mir das alles einbilde, dann soll Raphael nie wieder
auftauchen! Wollte sie das wirklich? Verwundert lauschte sie in sich
hinein. Ja – sosehr sie Rafe auch geliebt hatte. Wenn dieser Engel nur ein
Produkt ihrer Sehnsucht sein sollte, wollte sie ihn niemals wiedersehen.
    Entschlossen richtete sie sich auf und stieg in Châtelet mit einem
    neuen, schwer greifbaren Gefühl in die Linie  1 um,
die sie zum Louvre bringen würde. Sie hätte nicht sagen können, weshalb sie
plötzlich eine solche Gewissheit empfand, dass ihr seltsames Gebet erhört
worden war – und von wem –, aber sie verlieh ihr eine innere Ruhe, wie sie ihr
seit Tagen nicht mehr gegönnt gewesen war. Erwartungsvoll und doch gelassen
folgte sie der Touristenschar, die an der weiß gekachelten Station ausstieg und
durch die unterirdischen, von Antiquitäten- und Kunsthandlungen gesäumten Gänge
zum Museum strebte. Rafe – Raphael! – hatte
versprochen, hinter dem Eingang zu ihr zu stoßen, also kaufte sie zunächst eine
Eintrittskarte und ließ die Sicherheitskontrollen über sich ergehen, die jedem
Flughafen zur Ehre gereicht hätten. Wie schon bei ihrem ersten Besuch kam sie
sich klein vor, als sie aus dem schmalen Zugang in die Halle unter der
weltberühmten Glaspyramide trat. Hoch über ihr bildete die Konstruktion aus
Glas und Stahl ein lichtdurchflutetes Dach, aus dem eine großzügig geschwungene
Wendeltreppe wie aus dem Himmel herabführte. Die Balustrade, die den gesamten
ersten Stock umlief, trug ebenso zum Eindruck von Weite bei wie die breiten
Treppenaufgänge und das leuchtende Weiß der Wände und Böden. Besucher
umlagerten den Informationsschalter in der Mitte, studierten Lagepläne oder
strebten den verschiedenen Ausstellungen zu. Ihre Stimmen hallten im Saal wider
und vermischten sich zu einem Lärm, der kaum zu einem Museum zu passen schien.
An den Rolltreppen vor dem mit »Denon« überschriebenen Aufgang herrschte sogar
Gedränge, denn in jener Richtung lockte die Mona Lisa.
    Sophie drehte sich um sich selbst und hielt dabei nach Raphael
Ausschau. Da sie mit Sicherheit auch hier beschattet wurde, wusste sie, dass er
nicht für jedermann sichtbar erscheinen durfte, aber es war trotzdem seltsam,
als er plötzlich neben ihr stand und die Handtasche einer vorübergehenden
älteren Dame einfach durch seinen Arm glitt, anstatt hängenzubleiben. Als wäre er Luft.
    »Für alle anderen hier bin ich Luft«, erinnerte er sie lächelnd.
    Es gelang ihr gerade noch, die Worte, die ihr schon auf der Zunge
lagen, wieder hinunterzuschlucken. Das wird hart. Mir
rutscht im schlechtesten Moment bestimmt doch noch eine Antwort raus.
    »Es wird schon alles gut gehen. Mach dir keine
Sorgen. Wo willst du hin?«
    Erneut musste sie sich beherrschen, um nicht laut herauszuplatzen. In die orientalische Sammlung.
    Raphael nickte und marschierte so zielstrebig davon, dass ihr keine
Zeit blieb, sich zu orientieren. Offenbar kannte er den Weg, was entschieden
besser war als die Odyssee bei ihrem ersten Besuch.

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