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Der Kuss des Jägers

Der Kuss des Jägers

Titel: Der Kuss des Jägers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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weitergehen, da blieb ihr Blick an einem
der größeren, kaum fingerlangen Zylinder hängen, den sie nur noch flüchtig hatte
mustern wollen. Er stand im untersten Regal, sodass sie sich bücken musste, um
ihn genauer zu betrachten, und recht weit hinten, was es unmöglich machte, viel
von der auf ihm dargestellten Szene zu erkennen. Nichts unterschied ihn von den
anderen, und doch erfasste sie bei seinem Anblick unterschwellige Aufregung.
Konnte das der Schlüssel sein? Insgeheim hatte sie sich ein beeindruckenderes,
womöglich goldenes oder juwelenbesetztes Artefakt vorgestellt. Immerhin verbarg
sich eine gewaltige Macht darin, wenn es eine Hölle zu öffnen vermochte.
    Aber da stand nun dieses unscheinbare, im Grunde mickrige Ding, zu
dem ihr Blick wie magisch angezogen ständig wieder zurückkehrte. Mit jeder
Sekunde, die sie es ansah, wuchs ihre Unruhe und der Eindruck, dass irgendetwas
von diesem Gegenstand ausging, das die Nervosität verursachte. Es musste der
Schlüssel sein. Doch wie sollten sie ihn vor Kafziel in Sicherheit bringen,
solange er hier im Louvre war?

    »Lenoir« stand in Blockbuchstaben auf dem Klingelschild.
Hier wohnte also Sylvaine. Neugierig sah Jean an dem Gebäude hinauf: ein
typisches Pariser Haus mit fünf Stockwerken und Mansarden, aus hellen
Steinblöcken gefügt und vor den bodentiefen Fenstern mit schwarzen,
schmiedeeisernen Geländern versehen. Die alten Wohnungen mussten jedoch
kürzlich renoviert worden sein, denn die Fensterrahmen leuchteten noch weiß,
die Gitter wiesen keinen Rost auf, und auf drei Etagen ragte ein vornehmlich
aus Glas bestehender Erker aus der Fassade, der zu neu und glatt aussah. Lebte die
Schwarzmagierin in einer dieser vermutlich teureren Wohnungen, oder hatte die
Zauberei ihr bislang keinen Wohlstand eingebracht?
    Man muss nicht reich sein, um eine teure Wohnung
zu besitzen. Jahr für Jahr kämpfte er darum, die Steuern für sein Heim
auf der Île Saint-Louis aufzubringen. Es wäre einfacher gewesen, die Wohnung zu
Geld zu machen und in einen weniger noblen Stadtteil zu ziehen, aber er liebte
die Aussicht auf die Seine, die ruhige Atmosphäre der Insel – und außerdem
hätte Tante Diane ihm nie verziehen, wenn er sein Erbe verkauft hätte.
    Und nun? War der Jäger zum Gejagten geworden, der nie wieder in
seine Wohnung zurückkehren konnte. »Merde!« Gereizt schob er den Gedanken
beiseite. Er hatte keine Ahnung, wie er das Problem lösen sollte, und es gab
Wichtigeres zu tun. Der Drang nach einer Zigarette überkam ihn mit solcher
Macht, dass er sich unwillkürlich nach einem Kiosk oder Tabakladen umsah, doch
außer einem kleinen asiatischen Restaurant und einem Jazz-Plattenladen hatte
die Rue de Navarre keine Geschäfte zu bieten. Auf der anderen Straßenseite gab
es nicht einmal Häuser, nur den Zaun einer Grünanlage, die im Wesentlichen aus
einem hohen, von Bäumen und Gesträuch überwucherten Wall bestand. Dahinter
verbarg sich die römische Arena des einstigen Lutetia. Jean hatte sie vor
Jahren besichtigt und war seitdem nicht mehr in der Gegend gewesen. Ein
schmaler, wie eine Klamm wirkender Durchbruch, in den gerade ein paar
Jugendliche mit einem Fußball verschwanden, führte in die Arena, während auf
dieser Seite des Walls nur ein paar eingewachsene Mauern und dezente
Schautafeln erahnen ließen, dass es mehr mit diesem Park auf sich hatte.
    In der untergehenden Sonne warfen die Bäume immer längere Schatten.
Sicher würde die Anlage über Nacht geschlossen werden, damit keine Obdachlosen
auf den Zuschauerrängen der Arena kampierten, aber noch stand das Tor offen,
und ein Clochard hockte auf einer der Mauern. Mit bestem
Blick auf Sylvaines Haustür, stellte Jean fest und beschloss, ebenfalls
dort herumzulungern, bis ihn jemand hinauswerfen oder Sylvaine auftauchen
würde.
    Als er sich dem graubärtigen Mann näherte, der einen unförmigen Hut,
ausgeleierte Hosen und ein fadenscheiniges Hemd über einem T -Shirt trug, nickte er ihm zu, ohne ihn weiter zu
beachten. Die meisten Pariser ignorierten Clochards, doch Jean bemühte sich,
ihnen einen Rest Würde zuzugestehen, da er bei seinen nächtlichen Streifzügen
bereits einige interessante Bekanntschaften unter ihnen gemacht hatte.
    »Jean?« Die Stimme des Alten klang erstaunt, überraschend jung und
kam ihm bekannt vor. War das nicht …
    »Tiévant?« Er fuhr herum, obwohl er wusste, dass er hätte fliehen
müssen.
    Der Brigadier starrte ihn ebenso ungläubig an wie er ihn. Aus

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