Der Kuss des Jägers
im Laden war.«
»Viel wichtiger ist, dass er Mitglied in Caradecs Zirkel war.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Er hat versucht mich davor zu warnen, was sie vorhaben. Ohne ihn
hätte ich niemals geahnt, dass Caradec mit Sophies Verschwinden zu tun haben
könnte oder dass Kafziel plant, die Wächter zu befreien.«
»Und er hat’s mit seinem Leben bezahlt«, murmelte Alex.
Ja und? Natürlich wünschte Jean niemandem
ein solches Ende, aber was hatte das jetzt mit ihnen zu tun? »Der Punkt ist,
dass sie immer noch da sind. Wer sagt uns, dass sie ohne Caradec nicht
weitermachen? Vielleicht hat Kafziel dieser Schwarzhaarigen längst einen neuen
Pakt angeboten.«
»Würde das für uns etwas ändern?«
Kapierte Alex denn nicht? Sie hatten keinen Informanten mehr. Der
Zirkel konnte das Ritual jederzeit mit einem anderen Opfer aufs Neue versuchen,
und sie würden erst davon erfahren, wenn es zu spät war. »Lilyth ist
verschwunden. Ich fürchte, dass Kafziel sie als Ersatz für Sophie benutzen wird,
und ich kann es nicht verhindern, wenn ich sie nicht finde.«
»Du willst den Zirkel überwachen.«
»Es könnte der einzige Weg sein, sie zu retten, aber ich habe nur
ein paar Vornamen. Ist außer Caradec jemand von ihnen in eurer Kundenkartei?«
»Keine Ahnung. Woran hätte ich sie denn erkennen sollen?«
»Hat Caradec nie jemanden mitgebracht?«
»Hm.« Alex versank eine Weile in Schweigen. »Da war eine
Schwarzhaarige. Ist schon zwei, drei Jahre her, dass er sie angeschleppt hat,
aber eine Weile hat sie echt viel gekauft. Sehr schlank, schon älter.«
»Sylvaine. Ich brauch ihre Adresse.«
Sophie betrat den Eingang und hielt sofort inne. Zwei
bärtige Gesichter ragten über ihr auf, zwei weitere blickten ihr von der
anderen Seite des Raums entgegen. Sie glaubte, die Blicke auf sich zu spüren,
obwohl ihr Verstand protestierte. Oder sahen sie über sie hinweg, als sei sie
ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig? Das ist albern! Sie
können nicht die Wächter sein, die Raphael meinte. Es sind nur Statuen!
Nervös schielte sie zu den rätselhaften Mienen hinauf, die zu beiden
Seiten des Eingangs in den Raum starrten. Sie musste den Kopf in den Nacken
legen, um Details zu erkennen. Die grauen Augen waren tot, so steinern und
leblos wie die Hüte, die an zinnenbewehrte Türme erinnerten, die seltsam
tropfenförmigen Zöpfe und die ebenso akkurat wie aufwendig geflochtenen Bärte.
Alles wirkte so echt wie gerade erst erstarrt, dass die armlosen Schultern
darunter umso mehr erstaunten. Doch das Merkwürdigste waren die gespaltenen
Klauen, auf denen die kräftigen Beine ruhten.
Verwundert wagte sich Sophie weiter vor, umrundete die Brust der
Skulptur zu ihrer Rechten, um den Rest des Körpers zu entdecken, der als
Hochrelief einen Teil der Wand bedeckte. Ausgebreitete Schwingen wuchsen aus
einem wuchtigen Stierleib empor. Nur wenige Schritte weiter wachte ein fünftes
Mensch-Stier-Adlerwesen an einem Treppenaufgang. Ich
phantasiere schon wieder. Es sind nur Statuen! Statuen, die von
Museumsmitarbeitern an ihre Plätze gestellt worden waren. Wahrscheinlich dort,
wo sie am besten zur Geltung kamen.
Neu-assyrisch, Regierungszeit Sargons II . ( 721–705 v. Chr.), Khorsabad, Irak, las sie auf dem Schild zu Füßen
des geflügelten Stiermenschen. Irak, das Land an Euphrat und Tigris, den
biblischen Flüssen. Sie sah sich genauer um und merkte erst jetzt, dass sie
sich in einem weiteren, wenn auch deutlich kleineren Innenhof befand. Schon das
etwas zu grobe Pflaster hätte sie stutzig machen können, aber das gläserne Dach
hoch über ihr schloss den Hof so hermetisch ab, dass kein Geräusch und kein
Luftzug hereindrang. Unten hatte man glatte, weiße Wände errichtet, an denen
noch etliche, wenn auch flachere Reliefs ausgestellt waren, doch darüber wurden
zwei Stockwerke der klassizistischen Fassade mit ihren großen Sprossenfenstern
sichtbar.
Sophie versuchte das Gefühl, von den geflügelten Wächtern beobachtet
zu werden, abzuschütteln und wandte sich gerade den übrigen Kunstwerken zu, als
sich Schritte dem Eingang näherten. Rasch tat sie in die Betrachtung des
Reliefs versunken, um in Wahrheit aus dem Augenwinkel den Mann zu mustern, der
hereinkam. Konnte dieser ergraute Herr in Hemd und Anzughose der Ermittler
sein, der sie observierte? Sie hatte sich jüngere, sportlichere Menschen
vorgestellt, aber er musste es sein, denn gewiss ließ man sie nicht so lange
aus den Augen. Das spielt jetzt keine Rolle! Für
Weitere Kostenlose Bücher