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Der Kuss des Jägers

Der Kuss des Jägers

Titel: Der Kuss des Jägers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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die
Polizei war sie hier ganz die Touristin, die ein Museum besuchte. Sie musste
den Mann ignorieren und sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.
    Aufmerksam sah sie sich einige Reliefs an, auf denen Szenen aus
Assyrien dargestellt waren. Vielleicht hielt einer der Priester, Höflinge und
Krieger eine Art Schlüssel in der Hand. Aber waren diese Fundstücke überhaupt
alt genug? Jean hatte von Sumerern gesprochen, von der Zeit um 3000 vor …
    Erstaunt blieb sie vor der überlebensgroßen Abbildung eines Mannes
mit Flügeln stehen. Gesicht und Hut, Haare und Bart glichen jenen der
Stierwesen, doch er hatte eindeutig einen Menschenkörper, trug Kleidung und
einen kleinen Eimer, während seine andere Hand mit einer Art Tannenzapfen auf
etwas zeigte. Hatten auch die Assyrer an Engel geglaubt? An Engel mit vier
Flügeln, von denen zwei nach oben und zwei nach unten wiesen? Das Schild des
Museums nannte die Figur einen genie . Ein Geist oder gar Dschinn? Aber sie konnte sich nicht
erinnern, je von Geistern oder Dschinnen mit Flügeln gehört zu haben.
Vielleicht war es, wie Jean vermutete. Vielleicht gaben die Menschen in
Mesopotamien über die Jahrtausende Erinnerungen an etwas weiter, das sie nicht
mehr verstanden, und sie hatte doch die Abbildung eines Engels vor sich, wie er
den Assyrern von ihren Ahnen überliefert worden war. Auch die geflügelten
Stiere mochten etwas verkörpern, das sie nur nicht einordnen konnte, weil sie
die Bibel nicht gut genug kannte. Der Gedanke gab ihr die Gewissheit zurück,
dass sie hier richtig war. Sie musste nur die Ausstellungsstücke aus der
richtigen Zeit finden.
    Da alles in diesem Raum aus Sargons Palast stammte, ging sie
schließlich mit gemischten Gefühlen zwischen den beiden Wächtern hindurch, die
den Eingang zum nächsten Abschnitt des Hofs flankierten, doch die mächtigen
Wesen rührten sich nicht. Auch hinter ihnen fanden sich nur Reliefe aus
Khorsabad. So beeindruckend sie auch sein mochten, Sophie betrachtete sie immer
kürzer und lief schließlich vorüber, ohne innezuhalten. Im angrenzenden
Ausstellungsraum erwartete sie ein vielversprechenderes Bild. Hier herrschten
Vitrinen vor, in denen kleinere Fundstücke aus ganz Mesopotamien präsentiert
wurden. Als sie die Jahresangaben las, schlug ihr Herz schneller. Drittes bis
zweites Jahrtausend vor Christus, mal eher vage, dann wieder recht genau
datiert. Neugierig musterte sie Figurinen, Fragmente von Keilschrifttafeln und
selbst Scherben, ohne darüber die größeren Skulpturen dazwischen zu vergessen.
Sie waren in einem anderen, manchmal kindlicher wirkenden Stil gehalten, der
dennoch Gemeinsamkeiten mit den späteren Werken aus Khorsabad aufwies. Einige
der kleinen Plastiken in den Schaukästen stellten sogar geflügelte Dämonen dar.
War eine von ihnen der Schlüssel? Auf jeden Fall hatten die Menschen schon in
Uruk überirdische Wesen mit Flügeln dargestellt. Kontinuität ,
wiederholte sie sich. Trotz aller Umbrüche war seit dieser Zeit ein bestimmtes
Wissen weitergegeben worden.
    Beim Betrachten der unzähligen, nur wenige Zentimeter großen
Rollsiegel spürte sie ihre Aufmerksamkeit allmählich erlahmen. In jeden dieser
meist aus hellem Gestein bestehenden Zylinder war eine Abbildung
hineingeschnitten worden, die – in weichem Ton abgerollt – ein individuelles
Siegel ergab, doch die wenigsten dieser erstaunlich aufwendigen Szenen wurden
vom Museum als Abdruck gezeigt. Stattdessen musste Sophie die Augen
zusammenkneifen, um die winzigen Figuren und Symbole zu erkennen, soweit sie
denn alle Seiten der kleinen Rollen sehen konnte. Was, wenn ausgerechnet auf
einem dieser Siegel ein Schlüssel abgebildet war? Kannten die Sumerer überhaupt
bereits Schlösser? Wahrscheinlich nicht. O Gott, ich werd
    dran vorbeilaufen, weil ich keine Ahnung hab, wie er aussehen soll …
    Seufzend ließ sie den müden Blick weiter über die durchsichtigen
Regale mit den Siegeln schweifen. Vieles war so klein, dass sich mit bloßem
Auge kaum ein Mann von einer Frau oder ein Stern von einer Blume unterscheiden
ließ. Der ältere Herr, den sie für einen Ermittler hielt, musste sie insgeheim
schon verfluchen, weil sie vor etlichen Vitrinen so lange ausharrte. Andere
Besucher, die erst nach ihnen den Saal betreten hatten, waren längst
weitergezogen. Er konnte sich denken, dass er sich durch das lange Herumlungern
im selben Raum verriet.
    Wie viele von diesen Siegeln gibt es denn noch? Gerade
wollte sie zum nächsten Schaukasten

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