Der Kuss des Jägers
zum Friseur fahren.«
Tiévant nutzte die hinzugekommene zweite Fahrspur, um sich durch ein
paar rücksichtslose Überholmanöver dem Taxi zu nähern. Zwischen den Bäumen der
Allee gingen die Straßenlaternen an, obwohl es längst noch nicht dunkel war.
Vor ihnen kam eine weitere große Kreuzung in Sicht. Gerade als sich Jean
wunderte, weshalb ein Taxifahrer freiwillig die rechte Spur benutzte, leuchtete
auch schon der Blinker auf. »Pass auf! Es gibt zwei re…«
»Das seh ich!«, schnappte Tiévant und ignorierte die bereits gelbe
Ampel, um sich direkt hinter das Taxi zu setzen, das halb rechts in einen weiteren
baumgesäumten Boulevard abbog.
Wo führte diese Straße hin? Jean kannte die Métro-Linien in- und
auswendig, doch mit einem Auto fuhr er selten. Wenn er den Stadtplan richtig im
Kopf hatte, hielten sie auf Montparnasse zu. »Vielleicht will sie zum Friedhof.«
»Wie kommst du ausgerechnet … ach so! Du meinst, sie treffen sich
jetzt auf dem Friedhof von Montparnasse, weil Père Lachaise für sie nicht mehr
sicher ist?«
»Na ja. Da Caradec jetzt im Familienmausoleum beigesetzt wird, ist
dort mehr los, als ihnen lieb sein kann.«
»Die Richtung stimmt jedenfalls, aber sie könnte auch zum Bahnhof
wollen.«
»Ohne Gepäck?«
»Wenn sie ahnt, dass sie observiert wird, wäre sie dumm, mit Koffern
abhauen zu wollen.«
Sie hielten vor einer roten Ampel, und Jean merkte, dass Tiévant
nicht allzu dicht auffuhr. Rechnete Sylvaine damit, beschattet zu werden? Wenn
nicht, bestand kaum Gefahr, dass sie sich umsah und den Clochard aus dem Park
gegenüber am Steuer eines Wagens wiedererkannte. »Falls sie einen Verdacht hat,
wäre sie dumm, überhaupt am helllichten Tag mit dem Zug fliehen zu wollen.«
»Auch wieder wahr.«
Was gibt es noch in Montparnasse? ,
grübelte Jean, während sich der Verkehr wieder in Bewegung setzte. Mehrere
große Krankenhäuser. Wenn sie Pech hatten, machte sie wirklich nur einen
Krankenbesuch. Oder sie stürzte sich ins Nachtleben der Straßencafés, die vom
Flair vergangener Tage zehrten, als es die Künstleravantgarde der ganzen Welt
in dieses Viertel gezogen hatte. Eine Schwarzmagierin auf den Spuren von Joyce
und Hemingway? Wohl kaum.
»Da vorn ist der Place Denfert-Rochereau. Wenn sie zum Friedhof
will, muss er jetzt halb rechts oder geradeaus«, behauptete Tiévant.
Schon weitete sich der Boulevard und entließ sie in das Gewühl rund
um eine gewaltige Löwenskulptur. Mopeds, Busse, Fahrräder, Autos, Laster,
alles, was auf Pariser Straßen unterwegs war, schien hier aus mehr als nur vier
Himmelsrichtungen zusammenzutreffen und arrangierte sich ohne
Fahrbahnmarkierungen irgendwie von selbst, bis gleichsam aus dem Nichts eine durchgezogene
Linie quer über den Platz auftauchte. Dass sie zu einer Ampel gehörte, die
gerade auf Rot sprang, sah Jean erst, als Tiévant auch schon auf die Bremse
trat, sodass sie beide halb aus ihrem Sitz geschleudert wurden. »Mist!« Er
richtete sich auf und holte das Anschnallen nach, doch sein Blick blieb auf das
Taxi gerichtet, das sich hinter der Löwenstatue links hielt.
»Damit fällt der Friedhof aus«, stellte Tiévant fest. »Und der
Bahnhof.«
»Wir verlieren sie.« Jean versuchte, um den Sockel des Löwen zu
spähen, doch mittlerweile war es zu dunkel geworden, und einige Fahrzeuge
hatten sich zwischen sie und das Taxi geschoben.
»Abwarten«, mahnte Tiévant, obwohl er nicht zuversichtlich klang.
Sobald es grün wurde, trat er aufs Gaspedal und raste den Platz entlang, an dem
unscheinbaren, dunklen Häuschen vorbei, in dem sich der Eingang zu den
Katakomben verbarg. Es fiel Jean auf, weil die Touristen fehlten, die hier
tagsüber Schlange standen, aber schon waren sie vorüber und verließen den Place
Denfert-Rochereau. Er kniff die Lider zusammen, um im Dämmerlicht besser zu
sehen. Die Lampen und Leuchtreklamen der Cafés und Geschäfte blendeten fast
genauso wie die Rücklichter der Wagen vor ihnen. »Da sind sie!« Gerade hielt
das Taxi an der nächsten Ecke. »Sie steigt aus!«
»Verdammt!« Tiévant schlug mit der Faust aufs Lenkrad. »Das ist eine
Einbahnstraße. Ich kann da nicht reinfahren.«
»Dann stell den Wagen eben ab!«
»Auf der Busspur?«, protestierte der Brigadier, doch er hatte den
Blinker bereits gesetzt und fuhr mit Schwung auf den hohen Bordstein.
Jean öffnete die Tür, sobald es halbwegs sicher schien, und sprang
aus dem Wagen, die Augen auf Sylvaine gerichtet, die in diesem Moment in
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