DER KUSS DES MAGIERS
vernünftig gewesen war.
„Du benimmst dich immer so erwachsen“, hatte ihre Freundin in der achten Klasse einmal zu ihr gesagt – und das nicht unbedingt als Kompliment gemeint.
Sina hatte nur die Schultern gezuckt. Sie wusste nun einmal, wie schwer es ihre Mom hatte, seit ihr Vater weg war. Warum hätte sie es ihrer Mutter noch schwerer machen sollen? Außerdem war ihre Mutter bei den meisten Dingen großzügig. Sie legte Wert darauf, dass Sina sich in der Schule Mühe gab und keine Drogen nahm – und sie ermahnte sie zu verhüten, seit Sina mit Lugo zusammen war. Aber ansonsten hatte Sina viele Freiheiten – schon allein deshalb, weil ihre Mom wegen der zwei Jobs selten zu Hause war.
„An Idaho wollen wir heute mal gar nicht denken“, meinte Sina und hakte sich gut gelaunt bei ihrer Mutter ein. „Jetzt genießen wir erst mal den Abend.“
„Na, nun bin ich aber wirklich gespannt“, sagte Sinas Mutter nach der Pause. „Nach allem, was Louisa erzählt hat, muss dieser Norman ja wirklich was Besonderes sein. Obwohl mir der mit den Glaskugeln vorhin auch sehr gut gefallen hat.“
„LeNormand“, korrigierte Sina sie sofort. Sie rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Im Programm stand der Magier nach wie vor, aber das musste nichts bedeuten – die Hefte waren bestimmt vor Beginn der Tour gedruckt worden.
Als Mad Max, der glücklose Zauberer, bei dem kein Trick funktionierte, seine Nummer beendete, hielt sie den Atem an. Jetzt musste LeNormand kommen.
„… Ich bin stolz, Ihnen heute hier präsentieren zu dürfen: LeNormand , den letzten echten Magier der Welt!“, rief der Conférencier.
So unauffällig wie möglich atmete Sina aus. Sie hatten ihn nicht gefeuert. Sie würde ihn wiedersehen. Vielleicht würde er sie wieder auf die Bühne holen? Wenn er sie auf die Waldlichtung brachte, konnte sie ihm all ihre Fragen stellen. Oder ihn noch einmal küssen …
Weil sie verträumt ihren Gedanken nachhing, fiel ihr erst nach einer Weile auf, dass an LeNormands Auftritt diesmal etwas anders war. Die Nummer begann immer noch damit, dass sein Gesicht wie ein weißer Ball über die Bühne schwebte, aber … Diesmal wirkte es ganz und gar nicht schwerelos. Es gab immer wieder ruckartige Bewegungen, einmal schien er sogar fast senkrecht abzustürzen, als er hoch unter dem Bühnenhimmel schwebte und erst kurz vor dem Boden gerade noch abbremste.
„Wow“, flüsterte ihre Mutter. „Wie macht er das?“
Offenbar merkte nur Sina, dass etwas nicht stimmte.
Du solltest nicht hier sein.
Sina fiel es schwer, sich seiner warmen, tiefen Stimme zu entziehen, auch wenn sie sie wieder mal nur in ihren Gedanken hörte. Dennoch zwang sie sich, hellwach zu bleiben.
Was dachtest du denn?, entgegnete sie in Gedanken, ohne zu wissen, ob er sie ebenfalls hörte. Glaubst du, du kannst so was mit mir machen und ich vergesse das einfach? Ich will Antworten.
Ein paar Sekunden später spürte sie das Scheinwerferlicht auf sich.
„Na, der scheint dich ja wirklich zu mögen“, sagte ihre Mutter lächelnd. „Pass auf, du wirst noch berühmt!“
Diesmal legte Sina den Weg zur Bühne bewusster zurück. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Er würde doch wohl nicht noch einmal die Sache mit den Pistolen versuchen? Während ihre Mutter im Publikum saß? Sina kämpfte gegen die Anspannung und beruhigte sich damit, dass sie den Ablauf der Show jetzt zumindest kannte. Im Notfall konnte sie einfach vorher gehen.
Als sie vor ihm stand, erschrak sie. LeNormand sah furchtbar aus, auch das Bühnen-Make-up konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Sein Gesicht wirkte eingefallen, der Blick unendlich müde.
Wie in meinem Traum, schoss es ihr durch den Kopf.
„Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um einen herzlichen Applaus für meine reizende Assistentin Sina, die mich heute Abend dabei unterstützen wird, wahre … Sie zum Staunen zu bringen.“
Unsicher sah sie ihn an.
Was ist los mit dir?, fragte sie stumm.
Sie bekam keine Antwort.
Diesmal nahm er auch nicht ihre Hand, als er zum Spiegel deutete. Allerdings wusste Sina jetzt, was von ihr erwartet wurde.
„… würden Sie dem hoch geschätzten Publikum bitte zeigen, dass dieser Spiegel keine Illusion ist?“
Sie legte die Hand auf das kühle Glas, drehte den Spiegel, bis die Rückseite zu sehen war, dann wieder zurück. Wie erwartet trug ihr Spiegelbild ein anderes Outfit – doch auch hier hatte sich etwas verändert. Das Bild war unscharf, verwaschen, es flimmerte.
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