DER KUSS DES MAGIERS
ohne sich mit Lugo auf eine Diskussion einlassen zu müssen. Er hatte es nicht gern, wenn sie allein unterwegs war – nicht mal mit ihrer Mom.
„Na, Baby, wie geht’s dir?“, fragte er. „Hast du dich inzwischen wieder gefangen?“
„Ja, klar, alles bestens“, antwortete sie und ging dabei in ihr Zimmer.
„Für heute Abend habe ich uns dafür was ganz Ruhiges ausgesucht“, verkündete Lugo. „Wir gehen bowlen. Ich hab schon eine Bahn bestellt und hol dich um acht vom Café ab, wenn deine Schicht vorbei ist. Und danach feiern wir ein bisschen.“
Sie hörte an seiner Stimme, dass er lächelte. Er hatte vor, die ganze Nacht mit ihr zu verbringen.
Sofort hatte Sina ein schlechtes Gewissen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, das halbe Wochenende ohne ihn zu planen – nachdem sie ihm gestern versprochen hatte, heute den unverhofften Geldsegen mit ihm zu feiern? Das war wirklich nicht fair. Aber Sonntagmittag war sie ja spätestens zurück. „Du, Lugo, es tut mir echt leid, aber können wir das auch auf Sonntag verschieben?“, fragte sie. „Meine Mom und ich müssen heute nach Modesto und bleiben über Nacht.“
„Was wollt ihr denn da?“, fragte Lugo prompt.
Sina zögerte. Wenn sie ihm erzählte, dass sie sich dieselbe Show noch einmal anschauen wollte, würde er sie bestimmt für verrückt erklären – oder es ihr verbieten. „Es hat mit Moms Job zu tun. Sie springt in einer Filiale ein, die gerade Inventur macht, da sind zwei Leute krank geworden. Ich kann auch mitarbeiten und verdiene viel mehr als im Café, deshalb habe ich sofort zugeschlagen.“
Sobald sie die Worte herausgebracht hatte, glaubte Sina, dass Lugo ihre Lüge sofort entlarvte, und sie schämte sich fürchterlich. Normalerweise fand sie es schrecklich, nicht die Wahrheit zu sagen – schließlich wollte sie selbst auch nicht angelogen werden. Aber wie sollte sie ihm erklären, dass sie LeNormand unbedingt noch einmal sehen musste? Dafür hätte Lugo bestimmt kein Verständnis.
Doch er schöpfte tatsächlich keinen Verdacht. „Du brauchst doch jetzt gar nicht mehr so viel zu knechten“, meinte er nur. „Schon vergessen? Aber das gewöhnt man sich wohl nicht so schnell ab, was?“
„Nein“, stimmte Sina erleichtert zu. „Außerdem ist meine Mom dann nicht so allein. Inventur ist schließlich nicht gerade ein Spaß.“
„Na dann, Baby, spiel mal die fürsorgliche Tochter. Aber morgen Abend ist der gute alte Lugo dran, klar? Ich habe den Sekt nämlich schon kalt gestellt.“
„Na klar“, sagte sie fröhlich. „Morgen Abend ist alles wieder schick, und wir feiern zusammen.“
Plötzlich wurde Sina klar, dass sie genau das wollte: Antworten auf ihre Fragen, Seelenfrieden, und dann zurückkehren zu ihrem arbeitsreichen, aber trotzdem guten Alltag. Mit Lugo, dem sie noch beichten musste, dass sie nach wie vor in Idaho studieren würde. Aber immer schön eins nach dem anderen.
„Ich verlass mich drauf, Baby“, sagte er mit seiner gespielt tiefen Lugo-hat-alles-im-Griff-Stimme, dann verabschiedeten sie sich.
Aufatmend brachte Sina das Telefon zur Ladestation in der Küche.
„Na, alles klar?“, fragte ihre Mutter.
„Yep. Und mit Packen bin ich auch fertig.“
Ihre Mom deutete auf ihre Reisetasche und den Kleidersack auf dem Tisch, in dem das Seidenkleid schimmerte. „Ich auch. Wollen wir?“
„Unbedingt. Darf ich fahren?“
Kopfschüttelnd, aber lächelnd, warf ihr ihre Mutter die Autoschlüssel zu. „Woher wusste ich bloß, dass du das fragen würdest?“
Es wurde ein schöner Tag. Wie geplant schlugen Sina und ihre Mutter die grobe Richtung nach Modesto ein, nahmen aber kleine Landstraßen und ein paar Mal sogar eine Schotterpiste. Sie machten einen langen Spaziergang an einem See, stöberten zwei Stunden in einer Antiquitätenscheune, wo Sina schließlich für zwei Dollar ein Hufeisen erstand, das sie über die Haustür hängen wollte, tranken Kaffee in einem Straßencafé und zogen sich schließlich in dem Motel, das sehr einfach, aber sauber war, für den Abend um.
„Das war wirklich eine tolle Idee von dir“, sagte ihre Mom, als sie zum Wagen gingen. „Es ist so lange her, dass wir beide mal richtig Zeit miteinander hatten. Und wenn du erst in Idaho bist …“
Sina nickte. Ihre Mom und sie waren immer auf sich gestellt gewesen und hielten meistens fest zusammen. Selbst in Sinas Pubertät hatten sie sich selten richtig gestritten. Was vielleicht auch daran lag, dass Sina schon früh ziemlich
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