DER KUSS DES MAGIERS
Knie, als ob seine Beine ihn nicht mehr trugen.
„LeNormand!“, schrie sie erschrocken und kniete sich halb unfreiwillig vor ihn, weil er ihre Hand nicht losgelassen hatte und sie mitzog.
„Les“, sagte er leise.
Verständnislos starrte sie ihn an. „Was?“
„Les. Das ist mein richtiger Name. LeNormand ist nur für die Bühne. – Aber das hast du wohl auch vergessen“, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.
Vergessen? Wieso vergessen?
„Les“, wiederholte sie nachdenklich.
Und noch während sie den Namen aussprach, blitzten Bilder in ihrem Kopf auf.
„Mama, wann kommt der Junge mit den goldenen Augen wieder?“
Mom schaut lächelnd zu mir hinunter.
„Er wollte Daddy heute Abend helfen, die Lampions für deine Party übermorgen aufzuhängen, und vorher noch den Rasen mähen. Er müsste jeden Moment hier sein. Du kannst es gar nicht erwarten, was? Ja, das ist wirklich mal ein netter Junge.“
„Les ist mein Freund.“
Er kommt immer zum Rasenmähen, und einmal hat er mir geholfen, den kranken Vogel einzufangen, der sich den Flügel gebrochen hatte, und ihn gesund gepflegt. Und er schaut immer vorher, ob keine Ringelnattern im Gras sind, damit er sie nicht beim Mähen verletzt. Er hat mir schon ganz viel über Tiere beigebracht und mir erzählt, dass er später mal Tierarzt werden will. Mit der Gartenarbeit verdient er sich Geld dazu und spart fürs College. Er kommt jede Woche, und wenn im Garten nichts zu tun ist, streicht er den Zaun oder repariert was am Haus, er ist nämlich sehr geschickt.
Ich finde ihn toll. Er redet mit mir, als würde ich alles verstehen, und vertraut mir alles an.
Es klingelt. Mom sagt, es ist Les, und ich renne zur Tür, um ihm aufzumachen.
Doch heute nimmt er mich nicht auf den Arm und wirbelt mich herum wie sonst immer. Er streicht mir nur übers Haar und sieht irgendwie traurig aus.
„Was hast du denn?“, frage ich und nehme seine Hand.
Da nimmt er mich doch auf den Arm und drückt mich an sich, dass ich fast keine Luft mehr bekomme.
„Ist schon gut, alles in Ordnung. Ich bin nur durcheinander, weil ich eine schwierige Entscheidung treffen muss, Beloved.“
Unwillkürlich presste Sina sich die freie Hand auf den Mund. Wie hatte sie das vergessen können? Na gut, sie war noch nicht ganz vier gewesen, und er sechzehn oder siebzehn, und sie hatte ihn – wie ihren Vater – nach ihrem vierten Geburtstag nie wiedergesehen. Aber damals war er ihre Welt gewesen. An Les-Tagen hatte sie ungeduldig am Fenster gestanden und gewartet, bis er endlich gekommen war. Die Stunden im Garten mit ihm waren für sie wie kostbare Schätze gewesen, die sie eifersüchtig gehütet hatte.
Wie konnte man so etwas einfach vergessen?
Schwer atmend lehnte sich Les an die Steinsäule hinter ihm.
„Was hast du?“, fragte sie leise. „Was ist mit dir los?“
„Ich bezahle für meinen Fehler“, erwiderte er. „Als ich dich bat, mich … das zu tun, worum ich dich gebeten habe, habe ich nicht nur dir etwas Unverzeihliches zugemutet, ich habe auch gegen einige Regeln verstoßen. Dafür werde ich jetzt bestraft.“
„Regeln? Wessen Regeln?“ Sie hörte selbst, dass sie schrill klang. „Was für eine Strafe?“, fügte sie etwas leiser hinzu.
Les schüttelte den Kopf. „Das willst du nicht wirklich wissen, glaub mir. Kehr in dein Leben zurück und hake die letzten zwei Tage als verrücktes Erlebnis ab! Irgendwann kannst du darüber lachen und deinen Kindern erzählen, dass du mal Assistentin bei einer Zaubershow gewesen bist und den Magier aus Versehen fast erschossen hättest, weil der Trick schiefging. Den Kindern, die du mit Lugo haben wirst.“
Sina wartete darauf, ob sie eine Stimme hörte, die das genaue Gegenteil sagte, irgendwas in Richtung „Bleib bei mir!“, „Hilf mir!“ – aber da war nichts.
Allerdings umklammerte Les noch immer ihre Hand. Er hielt sie so fest, dass sie fast kein Gefühl mehr in den Fingern hatte. Trotzdem machte sie sich nicht los.
„Okay“, sagte sie so ruhig wie möglich. „Du erscheinst also in meinen Träumen, redest in meinen Gedanken mit mir, holst mich für eine abgefahrene Nummer auf die Bühne, bei der maximal die Hälfte auf richtigen Zaubertricks beruht, entführst mich an seltsame Orte und bringst mich fast dazu, dich zu erschießen. Und du warst damals da, bevor mein Vater … Also, jedenfalls wirfst du mehr Fragen auf, als in zwei Tagen eigentlich möglich sein sollte. Und jetzt findest du, ich sollte einfach die
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