DER KUSS DES MAGIERS
Kein Vergleich zu der glasklaren Projektion vom letzten Mal, die man bestimmt noch in der letzten Reihe genau hatte erkennen können.
Dennoch reichte es, um dem Publikum ein verblüfftest Raunen zu entlocken.
Pflichtschuldig vollführte Sina ein paar Bewegungen, um zu zeigen, dass es sich bei der Frau in dem kurzen weißen Kostüm tatsächlich um ihr Spiegelbild handelte. Das Weiß bildete den größtmöglichen Kontrast zu ihrem blauen Sommerkleid, und weil sie diesmal das Haar offen trug, hatte das Spiegelbild jetzt eine Hochsteckfrisur.
Auf LeNormands Stichwort wiederholte sie die Spiegeldrehung, und diesmal erschien ihr Gegenüber in Jeans und T-Shirt. Das Bild war allerdings noch schwächer.
Wieder sah sie ihn fragend an, doch er sprach nicht mit ihr – nicht auf dieser erstaunlichen gedanklichen Ebene. Er schien auch darauf zu achten, sie nicht zu berühren. Wartete er genauso darauf, dass sie endlich auf der Lichtung allein waren?
„Also doch nur ein ganz gewöhnlicher Spiegel“, spulte er sein Sprüchlein ab, nachdem Sina noch einmal bewiesen hatte, dass es sich wirklich um keinen Trick handelte. „Zeigen Sie uns das bitte noch mal!“
Sina suchte seinen Blick. Das war die Stelle, wo sie ihre Hand durch das Glas steckte. Wäre sie nicht bei der letzten Vorführung dabei gewesen, hätte sie vielleicht genauso wenig wie das Publikum gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Aber sie wusste ja, was eigentlich passieren sollte. Oder wie es zumindest wirken sollte. Musste sie sich Sorgen machen?
Entschuldigung. Ich tue mein Bestes. Dir wird nichts passieren.
So richtig überzeugt war Sina davon nicht. LeNormand standen Schweißperlen auf der Stirn. Die ganze Sache hatte nichts von der Leichtigkeit und Mühelosigkeit vom letzten Mal.
Aber er würde nicht zulassen, dass etwas schiefging. Nichts, das ihrschadete.
Jedenfalls nicht absichtlich. Ich habe gesagt, du solltest nicht hier sein.
Die Stimme klang so bitter und gleichzeitig verzweifelt, dass Sina plötzlich trotz des heißen Scheinwerferlichts fror. Was um alles in der Welt war seit gestern mit ihm passiert?
Entschlossen legte sie die Hand auf das Spiegelglas. Wie erwartet gab es nach, doch längst nicht so leicht wie am Vorabend. Es gelang Sina mit einiger Mühe, die Hand hindurchzustecken, aber es fühlte sich an, als greife sie in zähen Mörtel.
Was passiert eigentlich, wenn er gerade jetzt die Konzentration verliert?, schoss es ihr durch den Kopf. Schnell zog sie die Hand zurück. Es wirkte wohl überzeugend überrascht, denn das Publikum applaudierte zufrieden.
Diesmal sagte er ihr nicht, dass sie vollkommen sicher war. Trotzdem wiederholte Sina die Geste, tauchte die Hand tiefer in den Spiegel und bewegte den Arm hin und her. Es ging leichter als zuvor, doch noch immer nicht so widerstandsfrei, wie es hätte sein sollen.
Was war das nur für ein seltsamer Trick, der nicht ganz oder gar nicht, sondern nur halb funktionierte?
Tief in sich wusste Sina es besser. Als ob sie wirklich noch glaubte, dass LeNormand mit Tricks arbeitete!
Sie zog die Hand zurück, drehte den Spiegel, klopfte auf die massive Rückseite, stellte ihn wieder richtig herum hin.
„Na so was, dieser Spiegel macht, was er will …“, sagte LeNormand, und es klang leider sehr überzeugend.
Sina schluckte. Sie wusste, was jetzt kam. Oder kommen sollte.
Schaffst du’s?, dachte sie eindringlich. Vorsichtshalber flüsterte sie es auch.
Nicht so wie letztes Mal. Erschrick nicht!
„Aber du kommst doch …“
Schon hatte er ihre Hand ergriffen und trat mit Sina durch den Spiegel.
Diesmal gab es kein hübsches Bild von einer Waldlichtung, kein Vogelgezwitscher. Sina schloss geistesgegenwärtig die Augen, um zu verhindern, dass sie vor der silbernen Fläche zurückschrak, aber es war trotzdem ein ekelhaftes Gefühl. Etwas wie feuchte, eiskalte Lappen schien sich um ihren Körper zu wickeln, versuchte, sie festzuhalten. Die einzig warme Stelle war ihre Hand, die LeNormand hielt, und Sina klammerte sich an diese Wärme. Nach Sekunden, die ihr endlos erschienen, hörte der Widerstand auf, doch die Kälte blieb.
Sina riss die Augen auf – und stieß einen halblauten Schrei aus. Sie standen am Ufer des Salzsees, den sie in ihrem Traum gesehen hatte. Und wie in ihrem Traum schien der Mond. Und es war eiskalt. Am Rand der Wüste schwankten die Temperaturen zwischen Tag und Nacht gewaltig.
Bevor sie etwas sagen konnte, sank LeNormand vor ihr zusammen, sank in Zeitlupe auf die
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