DER KUSS DES MAGIERS
Gesellschaft ausgestoßen – und wenn sie, so wie jetzt, als Gruppe eine Gelegenheit hatten, sich für all die in ihrem Leben erlittene Schmach und Häme zu rächen, würden sie es womöglich tun.
Je verzweifelter sie versuchte, sich loszumachen, desto fester wurde der Griff des Dicken, auch wenn er – bis jetzt – keine übermäßige Gewalt anwendete. Es war ein Kampf zur Belustigung der anderen, die sich an ihrem Unbehagen weideten – aber ein Kampf, der jeden Moment umschlagen konnte, denn die Rufe der Zuschauer wurden immer wilder.
Sina fiel nur noch ein Ausweg ein. Sie betete, dass Suss nicht von Anfang an geplant hatte, sie der Meute zum Fraß vorzuwerfen, und dass Les tatsächlich hier war.
„Les!“, rief sie so laut sie konnte. „Les, hilf mir!“
Einige beängstigende Sekunden lang passierte überhaupt nichts, dann schienen zumindest ein paar der Zuschauer leiser zu werden. Der Dicke jedoch ließ sie nicht los, ein paar andere johlten unverdrossen weiter.
Vielleicht konnte Les sie nicht hören, vielleicht war er zu weit weg. Oder – ihr Herzschlag setzte einen Moment aus – wirklich nicht hier.
Les, flehte sie in Gedanken. Les, ich brauche dich. Jetzt.
Plötzlich spürte sie einen starken Luftzug, und im nächsten Moment von hinten zwei Arme um sich. Sie hörte einen nicht sehr menschlichen Laut, der wie eine Mischung aus Knurren und Fauchen klang. Sina hätte geschrien, wenn sie nicht gleichzeitig Les’ Stimme gehört hätte.
Schon gut, ich bin da.
Der Dicke ließ ihre Hand los, als hätte er sich verbrannt. Die Umstehenden entfernten sich, so schnell sie jeweils konnten.
„Ganz ruhig, war ja nur Spaß“, wagte der Dicke immerhin noch zu sagen. „Wir hätten ihr nichts getan.“
„Wenn irgendjemand von euch sie noch einmal anrührt oder auch nur anspricht, werde ich mir das nächste Mal … nichts aus dem Keller holen.“
Les hatte die Stimme nicht erhoben, doch es gab keinen Zweifel, dass seine Worte eine Drohung enthielten – auch wenn Sina nicht wirklich verstand, was er meinte. Er würde sich das nächste Mal nichts aus dem Keller holen? War das Slang oder ein Code unter Ausgestoßenen und bedeutete eine Tracht Prügel?
Nicht dass das im Moment eine Rolle spielte. Alle schienen zu verstehen, was Les meinte. Denn auch der Dicke rannte jetzt, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, zurück zu seinem Wohnwagen.
Erleichtert ließ Sina die Tasche fallen, kuschelte sich in Les’ Arme und fragte sich, wie sie es so lange ohne eine Berührung von ihm hatte aushalten können. Wenn sie bei ihm war, fühlte sich alles richtig an, so verrückt die Umstände auch sein mochten.
Na schön, er konnte durch Spiegel gehen und sie an ungewöhnliche Orte bringen, vielleicht konnte er auch schweben oder fliegen – egal. Ihr ganzer Körper kribbelte, wohlige Wärme breitete sich in ihr aus und strömte in ihre Mitte. Wenn sie sich jetzt in seinen Armen umdrehte, würde sie direkt vor ihm stehen, ihm in die unglaublichen goldenen Augen schauen und ihn endlich wieder …
„Was machst du hier?“ Er klang nicht gerade freundlich.
Vorsichtig, damit er sie nicht losließ, drehte sie sich um – doch als dadurch ihr Mund tatsächlich nur Zentimeter von seinem entfernt war, gab er sie hastig frei und trat einen Schritt zurück.
„Wie bist du hierhergekommen? Und wieso bist du überhaupt noch in der Stadt?“
Zu aufgewühlt, um über seine abweisende Haltung gekränkt zu sein, zuckte Sina die Schultern. „Das ist einfach. Suss. Er hat mich gebeten hierzubleiben, mir ein Zimmer im ‚Star Inn‘ reserviert, und mich schließlich hierher begleitet.“
Les fluchte zwar nicht auf Spanisch, aber Sina hatte die Worte noch nie gehört. „Er hat dich von sich aus hergebracht?“, fragte er dann skeptisch, als wäre das unmöglich.
Sina dachte kurz nach. „Nein, er hat nur alles getan, damit ich in der Nähe bleibe. Ich habe ihn gebeten, mich zu dir zu bringen, damit …“
„Gebeten? Was genau hast du gesagt?“
Wieso war das so wichtig? „Keine Ahnung, ‚Bring mich zu Les‘ oder so.“
Les seufzte und fluchte wieder, diesmal nicht ganz so kraftvoll. „Er sollte auf dich aufpassen, mehr nicht. Ich wollte doch nur …“
„Er hat gesagt, dass es dir nicht gut geht, wenn ich mich zu weit entferne“, unterbrach Sina ihn. „Ich will nicht, dass du Schmerzen hast. Ich will dir helfen.“
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er sie wieder in die Arme nehmen, doch dann schüttelte er
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