DER KUSS DES MAGIERS
den Stufen zur Wagentür saß jemand und schnitzte an einem Stück Holz. Die Person trug einen breitkrempigen Hut und hatte den Kopf nach unten gebeugt, sodass Sina nicht erkennen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Der unförmige karierte Overall verriet nichts.
„Entschuldigen Sie …“, begann Sina, als sie in Hörweite war.
Die Person hob den Kopf, und Sina schlug die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Sie konnte immer noch nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn das Gesicht war von großflächigen Brandnarben völlig entstellt. Ein einziges Mal hatte Sina so etwas bisher gesehen, und zwar in einem „Nightmare on Elmstreet“-Film, den sie gar nicht hatte sehen wollen. Nur Lugo zuliebe war sie mitgegangen. „Der große, starke Lugo passt schon auf dich auf, Baby, keine Sorge“, hatte er nur gesagt und es im Film dann auch tatsächlich gönnerhaft ertragen, dass sie sich ständig an ihn geklammert und ihr Gesicht an seine Brust gedrückt hatte.
„Na, Schätzchen, hast du denn schön deinen Eintritt bezahlt fürs Gruselkabinett?“, fragte die Person auf den Stufen jetzt mit einer erschreckend heiseren Stimme. „Gaffer, die einfach so vorbeikommen, haben wir hier nämlich nicht so gern.“
„Verzeihung, entschuldigen Sie, ich war nur … nur nicht darauf gefasst. Ich wollte nicht unhöflich sein. Wissen Sie zufällig, ob ich Les hier finde?“
„Kenn keinen Les.“
„Dann vielleicht LeNormand?“
„Oho, das Dämchen spricht auch Französisch? Kenn keinen LeNormand.“
Sina schluckte. War das ein grausames Spiel, die Rache dafür, dass sie ihre Reaktion so schlecht hatte verbergen können? „Suss hat mich hergebracht, weil ich …“
„Kenn keinen Suss.“
Verdammt. Hatte Suss sie von Anfang an in die Irre geführt? War Les gar nicht hier? Hatte der düstere Bärtige sie mit voller Absicht in die furchtbarste Gesellschaft Modestos geführt, um sie hier ihrem Schicksal zu überlassen? Sina spürte, wie ihre Halsschlagader zu pochen begann. „Er ist groß, hat langes dunkles Haar und …“
„Vergiss es, Kleine, das nützt nichts. Sie ist blind.“
Erleichtert, mit jemand anderem sprechen zu können, wandte sich Sina zu der Stimme um – und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Mann, der vor ihr stand, reichte ihr gerade bis zum Kinn, war unglaublich dick und von Kopf bis Fuß mit einem glänzenden Schweißfilm bedeckt. Das konnte sie so gut sehen, weil er nur ein Trägerhemd und Boxershorts trug. Und er streckte ihr die Hand hin.
„Herzlich willkommen in Monster City“, sagte er übertrieben höflich. „Mit wem habe ich die Ehre?“
Das ist ein Test, schoss es Sina durch den Kopf. Ein Test, ob ich mit dem, was ich hier sehe, klarkomme. Sie biss die Zähne zusammen, erwiderte die Geste und schüttelte dem Mann die schweißtriefende Hand. „Sina Winter.“
„Sina Winter … Na, das ist ja mal ein schöner Name.“ Der Dicke kicherte. „Ich kann ein bisschen Winter gebrauchen, weißt du, mir ist nämlich immer viel zu heiß.“
Anstatt ihre Hand wieder loszulassen, zog der Mann sie immer näher zu sich heran, obwohl sie ihn so unauffällig wie möglich auf Abstand hielt. Es war wie eine Art Tanz, bei dem es darum ging, den Zwischenraum nicht zu verringern – aber der Dicke hatte erstaunlich viel Kraft, und Sina ahnte, dass sie auf lange Sicht verlieren würde, zumal sie mit der anderen Hand verbissen die Reisetasche umklammert hielt.
Mittlerweile waren noch mehr Gestalten auf den Platz gekommen, die das Spektakel begeistert umringten. Allmählich verließ der Mut sie, und Sina nahm wahr, dass die kleine Siedlung den Namen „Monster City“ nicht umsonst trug. Fast jeder hier war in irgendeiner Weise entstellt – und die wenigen, die äußerlich unversehrt aussahen, hatten einen so irren Blick, dass Sina die anderen fast vorgezogen hätte.
„Lassen Sie mich los!“, stieß Sina hervor und fixierte den Dicken mit ihrem Blick. „Ich suche Les, LeNormand. Suss hat mich hergebracht.“
Noch immer versuchte der Dicke, sie an sich zu ziehen. Noch immer widerstand sie ihm so gut sie konnte. Die anderen hatten mittlerweile einen Kreis gebildet und gaben Anfeuerungsrufe von sich, klatschten – wenn sie es denn konnten – oder stampften mit den Füßen auf.
Blanke Panik stieg in ihr auf. Die Leute hier waren sicher nicht böse, und einer allein hätte ihr bestimmt nichts getan. Aber sie waren verbittert, von der
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