DER KUSS DES MAGIERS
an ihr Gesicht und schaute sie mindestens eine Minute lang schweigend an. Die Berührung beruhigte Sina ebenso wie der Blick in seine goldenen Augen. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich normalisierte.
„Vertraust du mir?“, fragte er schließlich leise.
„Ja“, hauchte sie, da sie nicht nicken konnte.
„Glaubst du mir dann, dass alles, was du in den letzten drei Tagen erlebt, gesehen und geträumt hast, nicht halb so schrecklich ist, wie das, was du erfahren wirst, wenn du die ganze Wahrheit hörst? Glaubst du mir das?“
Oh ja, sie glaubte ihm aufs Wort. Die Traumbilder, in denen dieses Ding seinen Arm – sich selbst – in ihn hineingestopft hatte, standen ihr noch deutlich vor Augen.
„Ich möchte dich vor all dem beschützen, Beloved. Ich wollte es damals, und ich will es noch. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, dann … Egal. Noch ist es nicht zu spät. Du hast etwas gestreift, das dich beunruhigt, aber wenn du es zulässt, wird es dich nicht mehr belästigen. Das ist, als wenn du in einem See schwimmst oder im Meer – etwas berührt dich und ist im nächsten Moment vorbei. Und du bist froh, dass es weg ist, du schwimmst nicht hinterher, um es zu fangen, an die Oberfläche zu bringen und genau zu untersuchen. Richtig?“
Sina zögerte. Sie verstand die Chance, die er ihr bot, aber noch waren ihr die Bedingungen nicht klar. „Werde ich dich wiedersehen, wenn ich es weiterschwimmen lasse?“, fragte sie leise.
Les schüttelte den Kopf.
„Werde ich meinen Vater wiedersehen?“
Verflixt, wo kam die Frage her? Ihr Vater hatte sie verlassen, wollte sie und ihre Mutter nicht in seinem Leben haben. Sina konnte egal sein, ob sie ihn jemals wiedersah! Abgesehen davon, dass er mit dieser ganzen Sache am wenigstens zu tun hatte, brauchten sie ihn nicht.
Schweigend verneinte Les wieder.
„Werde ich weiter von dir träumen?“
Er zögerte. „Ich werde mir Mühe geben, das zu verhindern, aber ich …“
„Ach, Les, hör dir doch zu!“, rief Sina plötzlich aufgebracht. „Du wusstest bis vor kurzem nicht mal, dass ich überhaupt von dir träume. Als ich es erwähnt habe, warst du überrascht, schon vergessen? Du hast also wahrscheinlich gar keinen Einfluss darauf. Und wie, bitte schön, soll ich irgendetwas hiervon vergessen, wenn ich in Zukunft jede Nacht sehe, wie …“
Bei der Erinnerung an den Albtraum sprach Sina nicht weiter. Nein, das konnte sie nicht in Worte fassen.
„Was hast du geträumt?“, fragte er.
Noch immer hielt er ihr Gesicht umfasst, doch sie konnte ihn nicht ansehen und gleichzeitig davon sprechen.
„Was?“, wiederholte er drängend.
Sina schluckte. „Da war dieses Ding … dieses Monster … Es hat … es hat … es wollte in dich reinkriechen, und du … du hast es gelassen!“
Jetzt war Les derjenige, der die Augen schloss. Er zog Sina an sich und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie schmiegte die Wange an sein T-Shirt, hörte seinen beruhigend normalen Herzschlag, lauschte seinem Atem.
Sie wollte nie wieder woanders sein, auch wenn es bedeutete, dass sie Dinge erfuhr, die sie vielleicht ängstigten. Wenn sie so wie jetzt in seinen Armen geborgen war, konnte sie sich allerdings nicht vorstellen, was das sein sollte. Begleitet vom regelmäßigen Pochen seines Herzens, beruhigt von seinen Atemzügen, entspannte sie sich völlig – vielleicht zum ersten Mal seit alles begonnen hatte. Ihre Gedanken kamen zur Ruhe, ihr Verstand hörte auf, mit zu vielen unlösbaren Fragen zu kämpfen.
Wie ein Meteoritenschwarm vor einem nachtblauen Himmel blitzten hin und wieder Worte und Bilder auf der Leinwand ihres Bewusstseins auf.
… nicht in dieser Welt … Es ist alles gut, was immer auch geschieht … Tu es für mich, ich bitte dich … Wir haben keine Zeit mehr. Ich kann ihn nicht mehr lange beherrschen … Danke, Beloved … Wenn du getan hättest, worum er dich gebeten hat, dann wärt ihr jetzt beide frei …
Und auf einmal, als hätte sie ein Puzzleteil, das die ganze Zeit nicht gepasst hatte, endlich richtig herumgedreht, wurde Sina alles klar. Dass das Bild, das sie jetzt hatte, nach normalen Maßstäben keinerlei Sinn ergab, spielte in diesem Moment keine Rolle. Wahrscheinlich war es gar nicht möglich, es auf andere Weise zu erkennen. Man musste sich von allem, was man zu wissen glaubte, verabschieden, musste bereit sein, die Dinge zu sehen, wie sie waren, und nicht so, wie sie zu sein hatten.
„Les?“ Sina hob den Kopf, um seinen Blick zu erhaschen, und
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