Der Kuss des Meeres
mich in seinen Armen hält und sich Sorgen macht, wenn ich keinen Ton mehr sage.
12
Vom Fenstersitz beobachtet Galen, wie sich Emma im Fernsehsessel regt. Sie hat die ganze Nacht vor sich hin gemurmelt, aber wegen Torafs Geschnarche hat er nicht verstanden, was sie sagt. Sie sind lange aufgeblieben und Galen und Toraf haben abwechselnd ihre Fragen beantwortet. Wie haben sie sie gefunden? Wo leben sie? Wie viele von ihnen gibt es? Ihre Gefühle standen ihr ins Gesicht geschrieben, während ihr Ausdruck zwischen Überraschung, Faszination und Schock wechselte. Sie war überrascht, als er ihr erzählte, dass Dr. Milligan sie im Gulfarium entdeckt hat– die eigenartige Reaktion der Meerestiere erwähnte er nicht. Sie schien fasziniert, als er ihr erklärte, dass die meisten Syrena für alle Augen sichtbar auf dem Grund der Meere leben– natürlich wären sie für menschliche Augen nur sichtbar, wenn Menschen so tief tauchen könnten– und dass die königliche Familie in Felshöhlen wohnt. Gefesselt hat sie gelauscht, dass Poseidon und Triton Syrena aus Fleisch und Blut waren, die ersten Generäle ihrer Art, und nicht irgendwelche Götter, zu denen menschliche Legenden sie gemacht haben. Dann Entsetzen, als Toraf schätzte, dass sich die Bevölkerung beider Reiche zusammen auf über zwanzigtausend beläuft.
Galens Antworten wurden immer knapper, je mehr sie sich mit ihren Fragen dem eigentlichen Grund näherte, wegen dem er hergekommen ist– und wieder einmal war er seinem Instinkt dankbar, Rayna nichts zu erzählen. Er war– ist – nicht bereit, mit Emma über Grom zu sprechen. Selbst Toraf hat von der großen Frage abgelenkt, die sich hinter all den kleinen verbarg– warum? Emma hat die Verschwörung gewittert und manchmal dieselbe Frage auf verschiedene Arten gestellt. Nach einer Weile konnte er von ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie sich geschlagen gab und das meiste einfach hinnahm. Doch in ihren Augen stand immer noch Unglaube. Und wer könnte ihr das übel nehmen? Ihr Leben hat sich in der letzten Nacht verändert. Und er wäre ein Narr, wenn er nicht zugeben würde, dass sich seines ebenfalls verändert hat.
Als er sah, wie sie sich unter diese Fische gemischt hat, war sein Schicksal besiegelt. Es ist undenkbar, dass Emma keine direkte Nachfahrin Poseidons ist. Es ist undenkbar, dass sie jemals die Seine werden kann. Und er sollte sich besser jetzt schon daran gewöhnen.
Er sieht zu dem Einzelbett hinüber, in dem Rayna schläft; sie ahnt nicht, dass sie im Arm ihres Gefährten liegt, der ihr ins Ohr schnauft wie eine verletzte Leopardenrobbe. Galen schüttelt den Kopf. Wenn Rayna aufwacht, wird sie dafür sorgen, dass Toraf nie wieder durch die Nase atmen kann.
» Die letzte Nacht hat es also wirklich gegeben.« Emmas Worte schrecken ihn auf. Die einzige Regung, die sie zeigt, ist ein schläfriges Lächeln.
» Guten Morgen«, flüstert er und deutet mit dem Kopf auf Rayna und Toraf.
Emmas Augen weiten sich und sie nickt. Sie schiebt die Bettdecke von sich und lässt sie auf den Boden gleiten. Galen hat gestern Nacht in Rachels Schubladen gestöbert und einen Pyjama für sie gefunden, in dem sie schlafen konnte, während ihre Kleider trockneten. Als sie sich jetzt in dem Pyjama streckt, bemerkt Galen, dass sie viel größer als Rachel ist– das Tanktop schließt nicht ganz mit dem Bund ihrer Hosen ab– und viel kurviger. Der Anblick, wie sich der Stoff um Emmas Rundungen spannt, zwingt ihn, darüber nachzudenken, wie er sich heute konzentrieren soll. Weibliche Syrena sind stark und muskulös, aber Emma hat die lange Zeit in Menschengestalt einen etwas weicheren Körperbau beschert– und er ist überrascht, wie sehr ihm das gefällt.
Emma knurrt der Magen und sie errötet. Er begreift, wie sehr er auch das mag. Grinsend zeigt er auf die Leiter, die nach unten in den Flur führt. Das oberste Stockwerk, in dem sie die vergangene Nacht verbracht haben, lässt sich nur kletternderweise verlassen oder betreten. Sie nickt und steigt ohne ein Wort hinunter. Galen zwingt sich mit aller Gewalt, sich von dem verlockenden Anblick loszureißen, als sie die letzte Stufe der Leiter erreicht hat. Er folgt ihr mit zusammengebissenen Zähnen. Sobald sie im Flur sind, tauschen sie ein wissendes Lächeln– Toraf ist so gut wie tot.
Der Geruch von Essen, der das Treppenhaus heraufweht, verrät Galen, dass Rachel wieder da ist. Er kann ihre hohen Absätze in der Küche klackern hören und wie sie den Ofen
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