Der Kuss des Morgenlichts
im nächsten Augenblick die Fassung wieder. Er schüttelte den Kopf, als ließe sich die Erinnerung vertreiben wie eine lästige Mücke.
»Das ist in der Tat eine offene Rechnung zwischen Nathan und mir. Aber das hat nichts mit dir zu tun. Es geht nicht um Rache. Nicht nur zumindest. Ich würde dich und Aurora auch dann noch wollen, wenn deine Wege niemals seine gekreuzt hätten und wenn sie nicht sein Kind wäre.«
»Aber was genau erwartest du denn von mir?«, fragte ich.
»Ich will, dass du mich liebst, dass du dich mir voll und ganz anvertraust und meine Gefährtin wirst. Und ich will, dass du Aurora zu mir bringst. Lass uns einen Plan schmieden – mit deiner Hilfe kann ich Nathan überlisten. Ich glaube nicht einmal, dass er mich ernsthaft bekämpfen würde, wüsste er, dass du dich freiwillig für mich entschieden hast. Wahrscheinlich würde er einfach … gehen. Und wenn du mich darum bittest, Sophie, nun, dann würde ich gnädig sein und ihn sogar gehen lassen. Dann würde ich auf die Rache für Serafina verzichten. Das allein soll freilich nicht dein Ansporn sein! Überleg dir vielmehr, welches Leben ich Aurora bieten könnte … welches Leben dir.«
Jetzt endlich erfolgte die Berührung, die mich mit Furcht erfüllte und die ich zugleich gespannt erwartete. Seine Fingerspitzen wanderten kaum fühlbar über meine Wangen, übten nur einen leichten Druck aus, eher ein Kitzeln, ein Kribbeln, denn ein Streicheln. Meine Haut schien taub zu werden, um dann zu glühen. Ich konnte meinen Kopf nicht zurückziehen, konnte meine Augen nicht von seinen lassen. Nicht länger erahnte ich Farben in dem Schwarz, jedoch wirkte es nicht mehr hart und kalt, es schien wie Kohle in staubige Asche zu zerfallen, die der Wind mit einem Stoß verweht. Es schien, als ob die Asche mich einhüllte und sich nicht nur auf meine Lungen legte, sondern auch auf mein Herz, meine Seele, meinen Verstand.
Wieder bekam ich eine Ahnung von dem, was ihn mit Nathan vereinte, ihn nicht von ihm trennte – das Bemühen, sich nach außen hin gleichmütig und beherrscht zu geben, die vollkommene Selbstkontrolle auszuüben, während tief im Inneren eine Kraft brodelte, der sie mit dem Wunsch, möglichst normal zu leben, nicht Herr werden konnten. Sie wollten beide ein Leben ohne Kampf – und konnten doch nicht anders, als zu töten. Nathan die Nephilim. Caspar die Menschen.
Allerdings hatte auch Nathan einen unschuldigen Menschen getötet, Andrej Lasarew, den begnadeten Cellisten, und das aus purem Eigennutz.
Er bereute diese Tat zutiefst, während bei Caspar der grausame Tod eines Menschen niemals auch nur die geringsten Schuldgefühle hervorgerufen hatte.
»Du vergleichst mich mit ihm«, murmelte er.
Ich wusste, dass er keine telepathischen Fähigkeiten besaß, doch in diesem Augenblick, als er über mein Gesicht strich, hatte ich das Gefühl, er könnte in meinen Kopf sehen, ja könnte ihn mit seinem Blick spalten, hineingreifen und mir alles rauben. Anderen Menschen mochte er mit brachialer Gewalt das Herz aus der Brust reißen oder sie verbluten lassen – aus mir schien er mit seinem bloßen Verlangen all meine Gefühle, Empfindungen, all mein Urteilsvermögen, all meine Wünsche und Vorstellungen zu saugen. In diesem Moment wusste ich weder, was ich wollte, noch was richtig war. »Was tust du mit mir?«, fragte ich heiser.
Er zog seine Hand zurück.
»Keine Angst«, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns. »Ich habe Macht über Aurora … ich konnte ihre Kräfte erwecken. Aber ich habe keine Macht über dich. Du bist ein Mensch, und als solcher verfügst du über einen freien Willen. Du kannst dich entscheiden, du kannst eine Sache in all ihren Facetten betrachten. Weißt du, dass ich manchmal neidisch darauf bin?«
»Neidisch worauf?«, flüsterte ich.
»Wir Nephilim sind entweder Wächter oder Schlangensöhne, doch es gibt nichts dazwischen. Es gibt keine Grautöne, nur Schwarz und Weiß. Manchmal erscheint mir das als ehrlich. Manchmal ist es mir zu wenig.«
Ich blickte mich im Zimmer um und stieß auf genau diesen Kontrast – die weißen Möbel und seine schwarze Kleidung.
»Ja, manchmal ist es zu wenig«, bekräftigte er, »denn die wahre Schönheit, so denke ich manchmal, bedarf der Nuancen. Ich rede nicht von Halbheiten, aber wenn man ein Leben im Extremen führt, so balanciert man immer am äußersten Rande einer Welt. Man ist nie mittendrin, um dort einfach nur zu leben … einfach nur zu lieben … « Er seufzte.
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