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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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nach Geld und Macht, nach Luxus und Ansehen, Menschen, die ihren dunkelsten Trieben folgen, die rücksichtslos intrigieren und manipulieren, die sich am Elend der anderen bereichern, Menschen also, die die Ungerechtigkeit auf Erden mehren. Aber ich frage dich: Was ist schon gerecht? Etwa, dass wir Nephilim nicht existieren dürfen, das Menschenpack aber schon?«
    Während er sprach, waren seine Spinnenhände ein paarmal fuchtelnd durch die Luft gefahren. Nun ließ er sie wieder auf seine Knie sinken, beugte sich vor und fixierte mich mit seinem schwarzen Blick. »Nathan meint, dass die Nephilim ein Missgriff der Natur sind. Dass die Welt den Sterblichen gehört und wir beseitigt werden müssten. Aber warum, so frage ich dich, sollte das so sein? Wir sind doch schöner, kräftiger und klüger, genialer, vielseitiger und gebildeter als die Menschen. Die Erde steht uns doch viel mehr zu als ihnen! Die wenigen Menschen, die dazu in der Lage sind, sollten sich uns anpassen und in unsere Dienste treten, nicht wir ihnen umgekehrt den Vortritt lassen!«
    Ich konnte meinen Blick nicht von seinen Händen lassen, auch wenn sie jetzt reglos waren. Hände, die getötet hatten.
    »Ihr habt sie umgebracht«, stieß ich aus und konnte mein Grauen kaum bezähmen, »ihr habt sie brutal getötet … in den letzten Wochen … all die Menschen.«
    Meine Kehle wurde noch trockener, der Schmerz in meinem Kopf dumpfer.
    »Ach was«, sagte er leichthin, und kurz huschte der Ausdruck von Ekel über sein Gesicht. »Unter ihnen war niemand, der herausragte, niemand, an den man auch nur einen Gedanken verschwenden sollte, ja, um den es sich gar zu trauern lohnt. Pures, langweiligstes Mittelmaß, schlicht, einfältig und roh wie Tiere. Wir haben uns vor allem an Sportlern vergriffen – und was zählen die schon? Wir können ihre körperlichen Kräfte gut brauchen – sie selber aber verschwenden sie nutzlos, indem sie mit ihren Fahrrädern die Berge hoch und runter rasen. Wozu? Um sich vorzumachen, sie seien ewig jung? Am Ende krepieren sie doch alle. Pah! Dieses ganze lächerliche Trainieren! Wenn ich gemütlich schlendere, bin ich schneller als diese verschwitzte Brut. Ich bin auf meine Kräfte angewiesen! Ich brauche sie zum Überleben! Doch für dieses Sportlergesindel ist es nur Selbstzweck, fit, muskulös und schnell zu sein. Das verrät doch, wie hohl und beschränkt diese Leute sind. Kein Grund also, auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden.«
    Ein Schauer lief mir über den Rücken, und die Maske spannte sich wieder über sein Gesicht, als er es merkte. »Ich sehe schon«, fuhr er fort, und in seine Überheblichkeit und seine Verachtung mischte sich Ärger. »Ich kann dir dein ängstliches Zittern nicht ausreden. Nathan hat wohl ganze Arbeit geleistet, uns als grausame Schlächter darzustellen. Aber die Wahrheit ist: Man kann es auch ganz anders sehen. Vergiss die Toten der letzten Wochen. Denk nicht darüber nach, wie sie gestorben sind. Versuche die Sache vielmehr so zu sehen, wie ich sie sehe. Überleg einmal: Sind die Wächter, die uns das Leben schwermachen, tatsächlich so rein und gut? Wir Schlangensöhne könnten seit langem in Frieden mit ihnen leben. Aber sie haben sich in diese Mission verrannt, uns zu vernichten, und geben einfach nicht auf. Was tun sie denn? Wer sind sie denn? Doch nichts anderes als Killer! Keinem anderen Daseinszweck verschrieben, als andere zu vernichten! Du denkst, ich sei ein grausamer Mörder – aber sie waren es, die Wächter, die uns zuerst töten wollten. Wir haben nichts weiter getan, als uns zu wehren.«
    »Aber sie müssen doch die Menschen schützen!«
    »Und warum haben die Menschen mehr Schutz verdient als wir?«, rief er grimmig. »Warum werden sie geschont und wir nicht? Sämtliche Verdienste dieser Menschheit – ihre Kunst, ihre Sprachen, ihre Architektur, ihre Staatengebilde, ihre Religionen, ihre Philosophie –, das geht doch auf die Ideen einiger weniger zurück. Glaub mir, diese wenigen würden wir nie mit Füßen treten; sie sind uns herzlich willkommen. Aber die Massen … die Massen sind Füllfleisch, tumbe Mitläufer ohne Wert, beliebig und darum austauschbar. Ihr Drang, etwas aus ihrem Leben zu machen und die Welt zu verändern, ist doch bereits erschöpft, sobald sie ein schnelles Auto fahren, ein Dach überm Kopf haben und sich grunzend mit ihren ebenfalls grunzenden Weibern paaren, um armselige Bälger zu zeugen. Das soll die Krönung der Schöpfung sein?«
    Immer

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