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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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schwärzer wurden seine Augen, immer abgründiger. Ich hielt seinem Blick nicht stand, denn plötzlich erinnerte er mich an den Toten, den ich im Wald gefunden hatte. Ebenso leer war er. Ebenso gebrochen. Ebenso hoffnungslos.
    Seine Stimme war laut geworden, nun rieb er kurz die schmalen Lippen aufeinander, atmete tief durch.
    »Ich weiß«, sagte er leise, als er sich wieder unter Kontrolle hatte, »das Morden widert dich an. Aber glaub mir: Auch Nathan hat in seinem Leben eine Blutspur hinterlassen, einen Berg von Leichen. Wie oft hat sein Schwert brutal zugestoßen! Wie oft hat er gnadenlos Leben ausgelöscht, unser Leben, das der Schlangensöhne! Und was glaubst du, würde aus Aurora werden, wenn du sie in seine Obhut entlässt? Auch deine Tochter würde morden … würde uns unbarmherzig bekämpfen. Ist das das Leben, das du dir für sie wünschst? Das Leben einer Mörderin? Einer von grausiger Propaganda aufgehetzten Kriegerin, ohne Hoffnung auf Waffenstillstand?«
    Er ließ sich nicht länger von seinem Ärger treiben, sprach jetzt bedächtig und zugleich eindringlich seine Worte – Worte, die in meinem schmerzenden Kopf dröhnten. Ich versuchte mich zu räuspern, aber konnte es nicht, hatte das Gefühl, dass bei jeder Bewegung die rissige Haut meiner Zunge aufplatzen würde.
    »Aber was wäre sie denn, wenn du die Macht über sie hättest?«, fragte ich leise. »Du sagst, Nathan würde sie gegen euch aufhetzen, aber du würdest es genauso machen. Du würdest ihr einbläuen, dass die Menschen nichts wert sind und dass man sie zertreten kann wie lästiges Ungeziefer. Soll ich ihr so ein Leben wünschen?«
    Ich schluckte schwer. Meine Kehle fühlte sich an, als würde ein schleichendes Gift sie zersetzen.
    Er schüttelte den Kopf. »Das ist etwas anderes. Mich widert das Pack an, aber ich habe keine Freude am Töten. Ich weiß – es heißt, wir hätten nicht nur Ungerechtigkeit und Eigennutz, sondern auch Blutgier auf die Welt gebracht. Aber selbst in den alten Mythen werden wir nicht ausschließlich als gefräßige Ungeheuer dargestellt. Im Buch Henoch ist nicht nur zu lesen, dass die gefallenen Engel, die Väter der Nephilim, die Menschen dazu verführten, Fleisch zu verzehren und sich zu bekriegen. Sondern auch, dass sie ihnen unglaublich viel beigebracht haben: Wie man Waffen und Schilde fertigt, aber auch Armspangen und Schmuck, wie man sich die Augen schminkt und sich mit auserlesensten Steinen schmückt. Sie lehrten die Menschen die Medizin, die Astrologie, die Wolkenkunde, die Zeichen der Sonne und des Mondes zu deuten.« Er lächelte, machte eine kurze Pause. »Du kannst mir glauben: Es geht um so viel mehr als nur das Töten. Wo es notwendig oder nützlich ist, werde ich niemals darauf verzichten, aber ich würde gerne in Ruhe leben – wenn die Wächter mich denn ließen. Stünde Aurora auf ihrer Seite, wäre sie für den Rest ihres Daseins eine Getriebene. Sie müsste eine blutige Mission erfüllen. Ich hingegen – ich will nichts anderes, als die Welt nach meinen Vorstellungen zu gestalten. Und wenn du dir ansiehst, was die Menschen aus ihr gemacht haben, so kann kein erbärmlicherer Ort mehr daraus werden! Alles könnte Aurora von mir haben: Wohlstand, Macht, Kunst. Wenn sich uns die Hüter nicht ständig in den Weg stellen würden, hätten wir längst die Herrschaft übernommen – und sie könnte leben wie eine Königin. Hörst du? Wie eine Königin, nicht wie eine Mörderin! Welches Talent auch in ihr stecken würde – sie könnte es ausleben und müsste es nicht blind vor Wut vergeuden, indem sie einen Krieg führt, den sie weder begonnen noch gewollt hat. Sie könnte über ihr Leben entscheiden, alles bekommen, alles erreichen, was sie begehrt. Ich würde versuchen, sie zu beschützen, vor all denen, die ihr Böses wollen. Denn ja, nicht ich bin es – sie sind es, die Unheil über uns alle bringen.«
    Während seiner letzten Worte war er aufgestanden. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um in sein Gesicht zu schauen. Unergründlich und in Gedanken versunken wirkte sein Blick, als er zu den Fenstern hinüberging, ins Weite starrte. Nach einer kurzen Zeit kehrte er wieder zurück, umrundete langsam den Glastisch, ließ sich nachlässig auf der Lehne des weißen Sofas nieder. Immer noch hielt er den Abstand zwischen uns aufrecht, und doch war mir, als könnte ich seinen Körper spüren, wie er sich an meinen presste. Kälte entströmte ihm, doch nicht sie war es, die mich erstarren

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