Der Kuss des Morgenlichts
hatte.
»Erspar uns deine rührseligen Geschichten!«, zischte er. »Ich weiß, als Nächstes betest du mir wieder deinen alten Spruch vor: ›Man kann nicht wählen, von wem man geboren wird, aber man kann wählen, wer man ist.‹ Von wegen!«
»Das ist die Wahrheit!«, gab Cara fest zurück. »Vielleicht gilt es nicht für jeden. Aber ich habe es gekonnt – und du hättest es auch gekonnt!«
»Was gekonnt? Einfach zu leugnen, wer ich bin? Einfach fortzulaufen? So wie du? Auf meiner Seite warst du dazu bestimmt, eine wahrhaft Große zu werden.«
»Eine große Mörderin, ja!« So aufgebracht, wie sie war, zischte nun auch Caras Stimme wie die der Schlangensöhne.
»Wer will denn hier wen töten?«, hielt Caspar entgegen.
»Das frage ich dich. Du warst es doch, der uns hierhergelockt, der alles geplant hat.«
»Wenn Nathan mir damals nicht in die Quere gekommen wäre … «, Caspar schüttelte den Kopf. »Aber das ist eine Sache zwischen ihm und mir. Du hast damit nichts zu tun. Das hier ist nicht dein Kampf, Cara! Verschwinde! Hau ab! Ich verstehe nicht, warum du Nathan unbedingt helfen willst und warum du Aurora von mir fernzuhalten versuchst. Sie würde es bei mir doch gut haben!«
»So wie es mir bei unserem Vater gut ging?«, gab Cara zurück. »In Wahrheit hast du dich doch auch vor ihm geekelt! Aber du hast es dir nicht anmerken lassen, hast dich über mich lustig gemacht! Ich musste zusehen, wie ihr, wie die Raubtiere, über Menschen hergefallen seid, wie ihr über ihre angstverzerrten Gesichter gelacht habt, wie du voller Stolz warst, wenn er dich gelobt hat. Aber mir konntest du nichts vormachen. Es war dir kein Genuss wie ihm. Du hast dir danach immer heimlich und gründlich das Blut deiner Opfer abgewaschen. Und dennoch hast du mich ausgelacht, wenn ich das tat.«
Nie hatte sie sich ihre einstigen Seelenqualen anmerken lassen; jetzt standen sie ihr unverhohlen im Gesicht geschrieben, eine Qual, noch aufreibender als Nathans fortwährendes Hadern mit seiner Bestimmung und noch weiter reichend als Caspars verborgene Sehnsucht nach einem friedlichen Leben. Beide waren sie nicht versöhnt mit dem, was sie waren, und schienen doch im Augenblick des Kampfes ihre innere Zerrissenheit überwinden zu können. Cara konnte das wahrscheinlich nie, wurde von ihr begleitet, bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug. Ob sie sich gerade darum immer so selbstbeherrscht gab? Weil sie sich über Jahre, Jahrzehnte antrainiert hatte, sich nie etwas von ihren wahren Gefühlen anmerken zu lassen?
»Du warst selbst schuld daran, dass er dich so drangsalierte!«, schrie Caspar. »Hättest du nur einmal bewiesen, wie stark du sein kannst, so hätte er dich in Ruhe gelassen. Was verlangte er schon von dir? Doch nichts weiter, als einen Menschen zu töten und dir seine Fähigkeiten einzuverleiben! Was ist das schon? Ein Mensch?«
Cara schüttelte heftig den Kopf. »Dass du das nicht begreifst … dass du diese Frage immer wieder stellst … das wird uns für alle Ewigkeit voneinander trennen!«
»Du denkst also, dass du besser bist als ich. Aber kannst du auch besser kämpfen?«
Instinktiv hatte ich mich auf den Beginn des Kampfes vorbereitet; mir war auch nicht entgangen, wie unruhig die schwarzen Kreaturen, die alles beobachteten, darauf warteten. Dennoch war es nach dem Wortwechsel der Geschwister überraschend, als plötzlich die Schwerter gezogen wurden, wieder so schnell, dass ich nicht erkennen konnte, wer seines zuerst gehoben hatte und nun auf den anderen einschlug. Ich starrte auf die wendigen, kreisenden Bewegungen, auf diesen meisterhaften Tanz, der so harmonisch wirkte und so tödlich war, nicht sicher, ob ich es richtig einschätzte, was vor meinen Augen geschah: Caspar schien Cara anzugreifen, woraufhin Nathan Cara zu schützen versuchte und seinerseits von Caspars drei verbliebenen Gehilfen attackiert wurde. Sie bewegten sich so schnell, dass ich nur noch ein unentwirrbares Knäuel von Leibern erkennen konnte, aus dem immer wieder die Schwerter hervorblitzten. Die Schreie wurden lauter, Schreie voller Triumph, Schmerz, Spott und Hass.
»Lauf!«, hörte ich Cara rufen. »Lauf fort!«
Erst jetzt erkannte ich, dass Caspar zu beschäftigt war, um meine Flucht zu bemerken, und ich den Felsvorsprung verlassen konnte. Der Weg zum Tal war frei. Doch ich lief nicht nach unten, sondern stürzte hinüber zu Nele, betastete ihren Körper, zerrte an ihrem Arm.
Ich spürte, wie sie atmete, wie ihr Herz flatterte, doch
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