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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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ihre Lider blieben geschlossen.
    »Nele! Bitte Nele, wach auf!«
    Sie regte sich nicht. Ich versuchte, sie mit mir fortzuziehen, doch sie war viel zu schwer für mich.
    »Nun lauf schon!«, schrie Cara. »Mach, dass du fortkommst!«
    Ich ignorierte ihren aufgebrachten Befehl. Nie und nimmer würde ich Nele zurücklassen – Nele, die immer zu mir gestanden und die mir immer geholfen hatte.
    Das Kampfgeschrei wurde durchdringender, der Boden schien zu vibrieren.
    Ich rüttelte Nele, zwickte sie in ihre Haut, versetzte ihr immer heftigere Klapse. Das Klirren der Schwerter kam näher; am Windzug spürte ich, wie sie haarscharf an uns vorbei die Luft durchschnitten. Unsere Lage wurde immer gefährlicher, immer hoffnungsloser, doch endlich öffnete Nele die Augen.
    »Was ist passiert?«, stammelte sie.

    Obwohl sie wieder zu sich gekommen war, blieb sie eine Weile kraftlos hocken, der Blick so leer wie vorhin. Da war nichts von der energischen, geschwätzigen, etwas schrillen Nele, die ich kannte. Sie glich einem verlorenen Kind.
    »Steh auf!«, schrie ich. »Lauf! Es geht um dein Leben!«
    Ein Ruck ging durch ihre Gestalt, und ihr Blick begann zu flackern, als sie erkannte, was um uns herum vorging. Für sie, die es noch nie gehört hatte, musste das Klirren der Schwerter noch furchterregender sein als für mich. Dicht neben uns sank eine schwarze Gestalt zu Boden, gab ein letztes Mal dieses grauenhafte Zischen von sich. Ich hörte es nicht zum ersten Mal, konnte es irgendwie ertragen. Nele hingegen kreischte entsetzt, als sie von einem Blutstrahl getroffen wurde.
    Der Schrecken gab ihr Kraft. Endlich sprang sie auf, ließ sich von mir mitreißen. Ich zwang sie, sich zu ducken, als wir an den Kämpfenden vorbeirannten, versuchte ihnen so gut wie möglich auszuweichen und zugleich keinen falschen Schritt in Richtung der bedrohlichen Tiefe zu machen. Das Geröllfeld schien unter uns zu beben, als wir darüber hinweghasteten. Nachdem wir es überquert und sowohl den Abgrund als auch den Tumult hinter uns gelassen hatten, folgte ich den Spuren, die Caras und Nathans Schritte in der feuchten Erde und im Gras hinterlassen hatte. Mehrmals rutschte ich aus, verfing ich mich im stacheligen Gebüsch. Ich hielt Nele fest an der Hand gepackt, ließ sie nicht los, ich drehte mich kein einziges Mal um.
    Weg! Weg! Ich musste sie wegbringen!
    Dieser Befehl hallte bei jedem Schritt in meinem Kopf wider. Der Weg ins Tal, der mir auf Caspars Rücken so kurz vorgekommen war, schien jetzt endlos zu sein. Als die stacheligen Hecken hinter uns lagen, schürfte ich mich an Steinen auf, blieb an Wurzeln hängen, das Gras schnitt in meine Haut, aber ich nahm nichts davon wahr, ließ mich ganz und gar von der Angst treiben, jemand würde sich uns in den Weg stellen, uns aufhalten, Nele erneut bedrohen.
    Endlich erreichten wir die Baumgrenze, das dunkle Blätter- und Nadeldach schützte uns vor der gleißenden Sonne.
    Nele schluchzte auf. »Sophie!« Erstmals wehrte sie sich gegen meinen kräftigen Griff und zwang mich, sie anzusehen. »Sophie, was geht hier vor?«
    Pure Fassungslosigkeit stand in ihren Zügen geschrieben. Ich konnte sie ihr nachfühlen, hatte ich mich vor kurzem doch selbst dem Unerklärlichen so hilflos ausgeliefert gefühlt. Aber jetzt war nicht die Zeit, ihr alles zu erklären.
    Weg! Weg!, schrie es wieder in meinem Kopf. Ich musste Nele wegbringen!
    »Nele, lauf!«, beschwor ich sie eindringlich. »Du musst jetzt nicht wissen, was hier geschieht. Du musst dich in Sicherheit bringen!«
    Meine Worte erreichten sie nicht.
    »Diese Männer … «, stammelte sie, »sie sind über das Haus hergefallen … sie haben alle Polizisten … «
    Sie schlug sich die Hand vor den Mund.
    »Nele! Beruhige dich! Denk nicht daran! Du musst jetzt … «
    Die Starre fiel von ihr ab. Nun war sie es, die mich an der Hand packte, mich mit sich zerrte und weiterrannte, schnell, immer schneller. Als sie ausrutschte, zog sie mich mit sich, und wir fielen beide hin. Wir rollten über den feuchten Waldboden, blieben an einem Baumstamm hängen. Doch hastig rappelte sie sich auf, zog mich unbeirrt weiter. Ich ließ es zu, bis wir fast den ganzen Wald durchquert hatten, dann widersetzte ich mich.
    »Nele!«, schrie ich. »Nele! Ich kann nicht weiter!«
    »Aber du hast es doch eben selbst gesagt! Wir müssen weg!«, rief sie.
    »Ich muss wieder zurück«, erklärte ich. »Ich wollte nur, dass du in Sicherheit bist. Jetzt wird dich wohl niemand mehr aufhalten.

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