Der Kuss des Morgenlichts
Mirabellgarten spazieren, und vor allem im Labyrinth der hohen Hecken, die über runde Drähte gewunden über uns zusammenwuchsen, hatte ich das Gefühl, mit ihm ganz allein auf der Welt zu sein, einer Welt, die bunt war, so saftig grün, die nach Sommer roch und Frieden schenkte.
Ich war glücklich, wenn wir gemeinsam musizierten, glücklich, wenn wir einfach nur nebeneinander herschlenderten, glücklich, ihn einfach nur betrachten zu können. Nur diese kurzen, merkwürdigen Momente, in denen Nathan plötzlich in sich gekehrt, abweisend und melancholisch wirkte, machten mir Angst, aber sie dauerten nie lange, und ich begann mich daran zu gewöhnen. Etwas anderes begann mich jedoch zu verwirren – nämlich dass er manchmal, wenn wir gemeinsam durch Salzburg spazierten, abrupt stehen blieb, sich hektisch umdrehte und nach allen Seiten Ausschau hielt, so als fühlte er sich von jemandem verfolgt. Seine Stirn war dann sorgenvoll gerunzelt, und auch wenn wir schließlich weitergingen, hatte ich den Eindruck, er würde auf Schritte lauschen, die uns nachkamen.
Einmal fasste ich den Mut, zu fragen, wer oder was ihn so beunruhigte. »Was hast du denn?«
Doch als er mir seinen Blick zuwandte, wirkte dieser so abwesend, als würde er aus einem Traum erwachen, einem sehr dunklen, düsteren Traum. »Es ist nichts.«
»Es scheint, als würdest du … «, wollte ich sagen, konnte aber nicht weiterreden. In diesem Augenblick hatte er sich schon über mich gebeugt und küsste mich, wie damals, bei Sonnenaufgang, vor seiner Wohnung. Erneut spürte ich seinen warmen Atem auf meinem Gesicht, schmeckte seine Lippen auf meinen, erschauderte und glühte zugleich. Als er mich endlich losließ, zitterten meine Knie. Eine Weile blickten wir uns überwältigt an, dann beugte ich mich zu ihm, küsste ihn nun als Erste, und er erwiderte den Kuss ohne zu zögern.
Ab nun sprachen wir kaum mehr miteinander; wir küssten uns so oft, so selbstverständlich, so heftig, dass keine Zeit mehr blieb zu reden. Wir küssten uns vor dem Hauseingang in der Goldgasse, wenn er mich abends nach Hause brachte, wir küssten uns in den Gängen des Landestheaters, wo wir uns eine Oper ansahen, wir küssten uns auf einer Bank auf dem Mönchsberg, von wo aus man die Felsenreitschule, den Furtwänglerpark und das Benediktinerkolleg überblickte. An einem Abend auf dem Mönchsberg schien er mich gar nicht wieder loslassen zu wollen, küsste mich nicht nur auf den Mund, sondern saugte an meinen Ohrläppchen, so lange und intensiv, dass sich mein Inneres fast schmerzhaft zusammenzog. Ich presste mich an ihn, spürte jede Faser seiner Körpers, konnte mich nicht erinnern, jemals so gierig nach etwas gewesen zu sein wie nach dem Geschmack seiner Lippen, seiner warmen, glatten Haut, seinem weichen, ein wenig gelockten Haar, durch das meine Hände fuhren. Ich wollte ihn spüren, nicht nur auf meinem Gesicht, in meinem Mund, sondern überall, ich ergriff seine Hände, lenkte sie über meinen Hals hinunter zu meinen Brüsten. Da erstarrte er, löste sich sanft, aber entschieden von mir.
»Wir haben Zeit«, murmelte er heiser, »wir … wir wollen nichts überstürzen.«
Ich nickte mit glühenden Wangen, starrte auf das abendliche Salzburg. Alles schien mir fremd, eine unbekannte Stadt, deren Straßen und Gässchen ich noch nie durchschritten, deren Kirchenglocken ich noch niemals läuten gehört hatte. Nathans und meine Welt war eine ganz eigene, von allem losgelöste und befreite, und wenn ich zurück in die Wirklichkeit kehrte, fühlte sich diese stets kalt und einsam an. Doch ich musste nicht viel Zeit ohne ihn überstehen. Wir sahen uns in den zwei Wochen, die auf den Kuss im Morgengrauen vor seiner Haustür gefolgt waren, jeden Tag.
Später ging mir manchmal der Gedanke durch den Kopf, dass seine Zärtlichkeit und die vielen Küsse vielleicht nur den einen Zweck gehabt hatten, jede meiner Fragen im Keim zu ersticken. In diesen Wochen lebte ich nur dafür, in seiner Nähe sein zu können, die Leidenschaft zu spüren, die er in mir entfachte. Ich wurde getragen von einer Woge des Glücks und war mir sicher, niemals glücklicher sein zu können.
Umso härter traf es mich, als Nathan plötzlich weg war. Mitte Juni verschwand er ein zweites Mal – ohne Ankündigung, ohne Nachricht, ohne Erklärung. Wir hatten uns vor dem Mozarteum verabschiedet, und am nächsten Tag tauchte er nicht wieder auf. Er wusste, wo ich wohnte, und kannte meine Telefonnummer, aber er
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