Der Kuss des Morgenlichts
meldete sich nicht.
Schon die drei Tage, die er beim ersten Mal verschwunden gewesen war, waren unerträglich gewesen – nun war bereits eine ganze Woche daraus geworden, die so quälend langsam verging wie ein ganzes ödes Jahr. Ich sagte mir, dass er auch beim ersten Mal wieder zurückgekommen war, und versuchte für meine Backalaureatsprüfung zu üben und vor Nele so zu tun, als mache es mir nichts aus. Ich konnte weder ihren gutmütigen Spott ertragen noch ihre anzüglichen Sticheleien über meinen Angebeteten, dem ich – wie sie behauptete – mindestens den Status eines Gottes zudachte, was grundsätzlich und immer ein Fehler sei, denn Mann bleibe Mann. Dennoch wurde ich mit jedem Tag panischer: Was, wenn er nicht zurückkam? Wie sollte ich ohne seine Musik leben, ohne seine Küsse, seine Berührungen, seinen Blick, der gleichzeitig nachdenklich und sehnsüchtig auf mich gerichtet war?
Nathan hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich ihn nicht wieder in seiner Wohnung aufsuchen sollte. Doch nach dieser einen Woche war mir das egal. Meine Verzweiflung war der Entschlossenheit gewichen, nicht länger untätig zu bleiben.
Ich wollte eine Erklärung! Die war er mir schuldig! Und ich würde nicht wieder schuldbewusst erröten, wenn ich ihn traf! So zumindest mein trotziger Vorsatz.
Als ich bei seiner Adresse in der Linzergasse ankam, verließ gerade eine Frau das Haus. Ich läutete darum nicht, sondern huschte schnell hinein und stieg Stock für Stock nach oben. Fremde Namen standen auf den Türschildern, und erst bei der Wohnung im Dachgeschoss traf ich auf die Initialen N. G.
Ich klingelte nicht, sondern begann stattdessen an der Tür zu klopfen und schließlich seinen Namen zu rufen. Mein Rufen, zunächst noch etwas zurückhaltend und scheu, wurde lauter und energischer, und als keine Reaktion kam, fing ich an, mir mit zunehmender Mutlosigkeit, aber auch mit Zorn alles von der Seele zu reden: »Nathan! Nathan, wo bist du? Das kannst du doch nicht machen! Du kannst nicht einfach gehen, ohne mir etwas zu sagen! Ich mache mir doch Sorgen. Wenn du nicht mehr mit mir zusammensein willst, dann sag es, aber versteck dich nicht vor mir! Ich will doch nur wissen, ob es dir gut geht!«
Ich hatte nicht die Hoffnung, ihn zu sehen, aber redete immer weiter und weiter. Solange ich mich in dieser wilden Tirade erging, spürte ich kein Unbehagen und keine Verlegenheit. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Nathan stand vor mir. Ich hatte nicht nur heftig gegen das Holz getrommelt, sondern mich gegen die Tür gepresst, so dass ich fast das Gleichgewicht verlor und in ihn hineinfiel. Gerade noch rechtzeitig fand ich das Gleichgewicht wieder. Ich starrte ihn an und zuckte ebenso betroffen wie verwirrt zurück.
Nie hatte ich ihn so gesehen – nur mit einer schwarzen Hose bekleidet, sein Oberkörper nackt. Er hatte immer sehr schlank und sehnig gewirkt; nun sah ich, wie extrem muskulös er war. Ich hatte keine Ahnung, wie mir das entgangen sein konnte, wenn ich ihn umarmt hatte, doch seine Schultern, sein Bauch und seine Oberarme waren perfekt trainiert – von einer vollkommenen Schönheit.
Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass man so eine Figur nur mit täglichem, stundenlangen Training bekommen konnte – Zeit, die ein Cellist doch für etwas anderes nutzen musste! Ich konnte meinen Blick nicht von ihm lassen, und mein Erstaunen war so groß, dass ich gar nicht daran dachte, peinlich berührt zu sein, weil ich ihn halbnackt sah.
»Sophie … «
»Wo zum Teufel warst du?«
»Sophie … « Seine Augen wirkten ungewöhnlich schmal, schienen fast in den Höhlen zu versinken. Unruhig sah er sich im Treppenhaus um, dann packte er mich an den Händen, zog mich in die Wohnung und schloss die Tür rasch hinter uns.
»Du solltest doch nicht herkommen … « Es klang nicht verärgert oder streng, eher kleinlaut.
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«, brach es aus mir heraus. »Du warst eine Woche fort! Keiner wusste, wo du steckst. Eigentlich weiß überhaupt niemand irgendetwas von dir. Wer bist du, Nathan? Und vor allem, was bedeute ich dir, wenn du es offenbar nicht einmal für wert befindest … «
»Sophie … «
Jetzt erst bemerkte ich, dass er mich immer noch an den Händen festhielt, ja, mich dicht an sich heranzog. Ich fühlte seinen nackten Oberkörper, seine Haut war kühl und glatt. Nach einer Weile ließ er mich wieder los, doch jetzt konnte ich nicht mehr von ihm lassen, größer noch als
Weitere Kostenlose Bücher