Der Kuss des Morgenlichts
hervor.
»Komm, Benni«, murmelte er schließlich, und der Hund gehorchte sofort und ließ sich widerstandslos anleinen.
»Bitte«, wiederholte er erst, als er Benni bereits wieder auf den Forstweg gezogen hatte, »bitte zeigen Sie mich nicht an!«
Immer noch konnte ich nichts sagen, und er wartete nicht länger auf eine Entgegnung, sondern verschwand im Wald.
»Wie hast du diesen Hund beruhigt? Warum hattest du keine Angst vor ihm? Warum ließ er sich von dir streicheln? Und woher weißt du … «
Aurora zuckte die Schultern. Ihre Augen leuchteten so durchdringend blau wie eben noch, aber sie wirkte nicht mehr konzentriert, sondern gedankenverloren.
»Die Kinder vom Spielplatz haben es mal erwähnt … «
Ich war mir sicher, dass sie nicht die Wahrheit sagte – allerdings wusste ich nicht, ob sie mit voller Absicht log oder ob sie sich selber nicht im Klaren darüber war, woher sie ihr Wissen hatte.
Langsam gingen wir zum Hauseingang. »Was soll ich denn jetzt tun … wegen des Hundes?«, stammelte ich. Noch während ich die Frage stellte, schalt ich mich, weil ich nicht imstande war, selbst eine Entscheidung zu treffen, sondern sie ihr aufbürdete.
Aurora zuckte wieder mit den Schultern. »Weiß nicht«, murmelte sie knapp, um dann allerdings ausführlich hinzuzufügen: »Der Hund, das war ein Rottweiler. Die Rasse heißt so, weil sie einst vor allem in der Stadt Rottweil gezüchtet wurde – für die dortigen Viehhändler. Eigentlich sind Rottweiler friedlich, anhänglich und kinderlieb. Vorausgesetzt, sie werden richtig gehalten. Wenn man sie falsch behandelt, werden sie aggressiv und neigen dazu, häufiger zuzubeißen als andere Hunderassen. Man sollte ein geübter Hundehalter sein, wenn man sich einen Rottweiler anschafft.« Sie machte eine kurze Pause, fragte dann beiläufig: »Schließt du auf?«
Ich hatte den Hausschlüssel in der Hand, doch die zitterte so stark, dass ich das Schloss nicht fand.
Woher wusste sie das?, fragte ich mich wieder.
Warum sprach sie Englisch und Italienisch? Wie hatte sie den Hund besänftigt? Und woher stammte ihr Wissen über seine Rasse?
Ich riss mich zusammen, unterdrückte mit aller Macht das Zittern meiner Hand und schloss die Tür auf. Aurora drängte sich an mir vorbei, und unwillkürlich zuckte ich zurück, als sich ihr Leib an meinen schmiegte.
Als ich ihr nachblickte, wie sie durch den Gang ins Wohnzimmer lief, wurde mir eisig kalt vor Furcht. Nein, das Schlimmste waren nicht ihre sonderlichen Fähigkeiten – das Schlimmste war, dass ich in diesem Augenblick mein eigenes Kind scheute.
Ich hatte Angst. Ich hatte Angst vor ihr .
Am nächsten Tag begann ich früh zu arbeiten. Gleich nach dem Frühstück zog ich mich in den ersten Stock zurück, schaltete den Laptop an und sortierte die Rechercheliteratur. Ich tat das nicht freiwillig, eigentlich war ich viel zu unkonzentriert, und die Buchstaben schienen vor meinem Blick zu zerrinnen. Doch Aurora hatte beim Frühstück unvermittelt erklärt, dass ich nach der gestrigen Pause heute wieder weiterarbeiten sollte, da mein Buch doch am Ende des Sommers fertig sein musste.
Es klang nicht nur altklug, sondern irgendwie befehlend, und so selbstverständlich, als hätten sich unsere Rollen vertauscht – als wäre ich das Kind, dem man sagen musste, was es tun sollte, und sie die Mutter, die bestimmen konnte, was zu tun war.
Ich wollte widersprechen, nicht nur, weil es mir unvorstellbar war, nach den gestrigen Ereignissen zur Tagesordnung zurückzukehren, sondern auch weil ich Neles Stimme im Ohr hatte, die mir gesagt hatte, dass ich nie die Autorität abgeben dürfe, obwohl, ja gerade weil ich eine ungewöhnlich junge Mutter sei. »Sie ist dein Kind, und du trägst die Verantwortung. Sie ist nicht deine Stütze, dein Partner, dein Tor zur Welt.«
Ich hatte diese Mahnung immer für übertrieben und vor allem für unbegründet gehalten. Doch als ich kleinlaut nickte und mich Aurora fügte, fühlte ich mich ertappt.
Du machst es falsch … keine gute Mutter … nicht gut genug … wie stellst du dich denn an … setz deinem Kind Grenzen … lass dich nicht von ihm verunsichern … wieso hast du bloß Angst vor deinem Kind … unmöglich … unfähig …
War es Neles Stimme, die da in meinem Kopf herumspukte, oder meine eigene? Von alten Selbstzweifeln getrieben, die ich längst abgeschüttelt geglaubt hatte, vor denen ich mich in Wahrheit aber nur versteckt hatte – naiv wie ein kleines Kind, das glaubt, es
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