Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
Vom Netzwerk:
müsse nur die Augen schließen, um unsichtbar zu werden.
    Noch mehr als diese Stimme setzte mir der Ausdruck von Auroras Blick zu. Ich konnte ihn nicht deuten. Etwas Unheimliches und Faszinierendes zugleich lag darin, etwas Unbeugsames, Altes, Wissendes, Starkes.
    Ich beugte mich ihrem Blick, weil ich ihm nicht standhalten konnte und noch weniger der Frage, was diesen sonderbaren Blick zeugte, warum eine unsichtbare Grenze zwischen uns gezogen schien und es mir so schwerfiel, sie zu berühren, ihr einfach über das Haar zu streichen.
    Der Himmel war heute diesig, die Luft noch kalt, und während ich arbeitete – oder so tat, als ob –, saß Aurora im Wohnzimmer und las Bücher. Alle halben Stunden sah ich nach ihr, fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie blickte immer nur kurz auf, irgendwie streng, so als würde sie gleich fragen, wie weit ich schon gekommen sei. Insgeheim war ich jedes Mal erleichtert, das Wohnzimmer wieder verlassen und mich in die Arbeit flüchten zu können, nicht mit ihr in einem Raum sein und warten zu müssen, was sie nun wieder an Unerklärlichem sagen oder tun würde.
    So verging der Vormittag, gefolgt von einem Mittagessen, das aus ein paar schnell geschmierten Butterbroten bestand. Aurora aß nur eines, aber das war immerhin mehr als nichts. Anschließend kochte ich mir Kaffee – so in Gedanken versunken, dass ich die Maschine mit viel mehr Pulver als nötig füllte.
    »Sollen wir … sollen wir spazieren gehen?«, schlug ich vor.
    »Ich würde gern noch lesen. Und du kannst weiter arbeiten.«
    Wieder ließ ihre strenge Stimme keinen Widerspruch zu. Und wieder fügte ich mich wie ein ängstliches, kleinlautes Kind.
    Nach jeder Zeile, die ich schrieb, und nach jeder Notiz, die ich machte, nahm ich einen Schluck Kaffee, der so stark war, dass mir bald die Hände zitterten. Dennoch trank ich weiter, als wäre es eine Wohltat, dass dieses Zittern und Kribbeln ausnahmsweise von einer banalen, alltäglichen Sache wie Kaffee herbeigeführt wurde, nicht von Unbehagen, Sorge, Verwirrung.
    Am späten Nachmittag konnte ich nicht mehr weitermachen, schaltete den Computer aus und ging in Auroras Zimmer, um es aufzuräumen. Anders als sonst gab es dort nicht viel zu tun: Das Bett war schon gemacht, Bücher und Spielsachen sorgfältig in die Regale gestapelt. Lediglich Neles Stoffhase lag achtlos in einer Ecke. Ich bückte mich danach, erinnerte mich, wie dieser Stoffhase Auroras Händen entglitten war – damals, am ersten Abend, als sie eine dunkle Gestalt zu sehen gemeint hatte.
    Er ist da.
    Unwillkürlich drückte ich den Hasen an mich, vergrub mein Gesicht in dem flauschigen Stoff, voller Sehnsucht, auch Aurora so halten und liebkosen zu können, ganz ohne Scheu und Misstrauen. Die Plastikaugen stachen mir in die Wange, aber das störte mich nicht, nicht, solange er nach Aurora roch, solange er so weich wie ihr Haar war.
    Plötzlich ließ ich den Hasen sinken.
    Flüstern … ich hatte ein Flüstern gehört.
    Erst war ich mir nicht sicher, aus welcher Richtung es kam, und je länger ich lauschte, desto weniger klang es nach einem Flüstern, sondern eher nach einem Grummeln, nein, vielmehr nach einem Säuseln, einem Zischen. Irgendwie kam es mir bekannt vor.
    Der Stoffhase fiel mir aus der Hand, als ich ins Wohnzimmer stürzte. Ein kalter Lufthauch traf mich, die Tür zum Garten stand sperrangelweit offen. Doch nicht der Wind ließ mich erschaudern, sondern etwas anderes.
    Aurora musste die Tür geöffnet haben, als plötzlich eine Gestalt davor aufgetaucht war – eine dunkle Gestalt. Der Mantel, den er trug, wehte im Wind; nur den schwarzen Haaren konnte der Wind nichts anhaben. Fest wie ein Helm lagen sie wieder um seinen Kopf, als wären sie festgeklebt.
    Caspar von Kranichstein.
    Warum hatte Aurora ihm bloß geöffnet? Vor allem aber: Warum war er überhaupt hier? Hatte ich ihm gestern nicht ausdrücklich gesagt, er solle nicht mehr in Auroras Nähe kommen?
    Vielleicht war genau das der Grund, warum er nicht geläutet, sondern eigenmächtig den Garten betreten hatte.
    Er schien mich gar nicht wahrzunehmen. Seine dunklen Augen, die aus der Distanz wie Löcher wirkten, fixierten Aurora, seine rechte Hand ruhte auf ihrem Kopf, und er redete zischend auf sie ein. Aurora machte keine Anstalten, zurückzuweichen. Sie stand steif und lauschte. Als ich zu ihr rannte und sie an den Schultern packte, war ihr Körper steif wie ein Brett. Beim letzten Mal hatte sie unter seiner Berührung gezittert und

Weitere Kostenlose Bücher