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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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ihr Gesicht, das im Schlaf so entspannt wirkte und nichts mehr von den Krämpfen erahnen ließ, und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen. Irgendwann nickte ich selber ein.
    Am nächsten Morgen versuchte ich sie mehrmals zu wecken, doch sie verzog immer nur unwillig das Gesicht, weigerte sich aufzustehen und schlief weiter. Es war bereits nach Mittag, als sie endlich in die Küche tapste. Mein Lächeln geriet zuerst sorgenvoll, aber als Aurora es mit einem ungewöhnlich strahlenden »Guten Morgen!« erwiderte, erleichtert.
    Sie aß zwar nur ein halbes Butterbrot, trank aber zwei Tassen Kakao und sprang schließlich energiegeladen vom Frühstückstisch auf, um die Tasse selbst in die Spüle zu stellen. Auch danach konnte sie nicht ruhig sitzen, sondern lief noch im Nachthemd in den Garten und sprang dort eine Weile im Gras, das noch feucht vom Tau war, umher.
    »Was machen wir heute?«, fragte sie schließlich unternehmungslustig.
    Ich schlug vor, den Nachmittag gemütlich im Garten zu verbringen, denn ich wollte sie nicht überanstrengen, aber Aurora runzelte ihre Stirn und fand das langweilig. Der Krankenhausaufenthalt schien vergessen, und über Caspar von Kranichsteins Besuch hatte sie bis jetzt kein Wort verloren.
    Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, etwas zu unternehmen und Abstand zu den gestrigen Ereignissen zu gewinnen, überlegte ich und schlug vor, ins Zentrum von Hallstatt zu fahren, wo wir bis jetzt noch nicht gewesen waren. Aurora stimmte sofort zu.
    Die Sonne schien, als wir mit den anderen Touristen durch die malerischen Gässchen rund um den Hauptplatz spazierten. Ich entspannte mich sichtlich, als Aurora begeistert auf die vielen kunstvoll bemalten Bauernhäuser zeigte, die dicht nebeneinander am steilen Hang errichtet waren. Im Museum von Hallstatt bestaunten wir später die Geräte, mit denen die Menschen vor dreitausend Jahren Salz abgebaut hatten, die kostbaren Grabbeigaben, die man im 19. Jahrhundert im berühmten Gräberfeld entdeckt hatte, das Keramikund Glasgeschirr, das die Römer hinterlassen hatten, schließlich Bilder vom großen Brand 1750. Während Aurora ansonsten viele Fragen stellte, las sie jetzt stumm die Texte in der Broschüre und trug sie mir danach mit großer Ernsthaftigkeit vor. Ich wunderte mich, dass sie so schnell lesen konnte – in der Schule hatte sie nie zu den Besten gehört. Als wir das Museum wieder verlassen hatten, war sie immer noch nicht müde, sondern wollte unbedingt eine Bootsfahrt machen. Ich wollte ihr gerne diesen Wunsch erfüllen, und bald lenkte Aurora das Elektroboot begeistert auf das Ostufer des Sees zu, wo wir aus einiger Entfernung das Schloss Grub betrachteten, ein weiträumig umzäuntes, teilweise verfallenes Gebäude, das noch weit mehr Renovierungsarbeiten nötig hatte als unsere Villa.
    Als wir zum Bootssteg zurückkamen, zeigte Aurora immer noch keine Spur von Erschöpfung. Behände sprang sie aus dem Boot und hüpfte gleich den Weg entlang. Ich wollte ihr folgen, wurde aber von einem hilfesuchenden »Excuse me!« aufgehalten.
    Zwei englische Touristen waren auf mich zugekommen, deuteten auf die Elektroboote und wollten wissen, wie viel sie pro Stunde kosteten.
    Ich wollte schon zur Antwort ansetzen und überlegte noch, was Elektroboot wohl auf Englisch heißen würde, als Aurora wieder zurückgeeilt kam, sich selbstbewusst neben mich stellte und den beiden Engländern ohne ihre übliche Scheu ins Gesicht blickte. Dann gab sie ihnen in akzentfreiem Englisch ausführlich Auskunft.
    Die Engländer bedankten sich mit einem freundlichen Lächeln und gingen dann zielstrebig auf den Bootssteg zu.
    Verwundert starrte ich Aurora an. Sie hatte mich an der Hand genommen und wollte mich mit sich ziehen, doch ich hielt sie auf. »Woher kannst du das?«, fragte ich atemlos.
    »Was?«
    »Du hast mit ihnen Englisch gesprochen!«
    »Wirklich?« Ihr Blick war nicht länger strahlend, sondern wirkte irgendwie abwesend, als könnte sie sich nicht daran erinnern, was eben geschehen war.
    »Ja, und das ganz ohne Akzent!« Unwillkürlich schrie ich. »Woher kennst du diese komplizierten Vokabeln?«
    Aurora zuckte mit den Schultern. »Die haben wir irgendwann mal in der Schule gelernt.«
    Meines Wissens hatte die eine Englischstunde pro Woche daraus bestanden, englische Kinderlieder zu singen. »Ihr habt gelernt, was Elektroboot auf Englisch heißt?« Nur mühsam konnte ich meine Stimme drosseln.
    Aurora antwortete nicht, sondern zuckte wieder mit den

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