Der Kuss des Morgenlichts
auf meine Tochter zu.
Ich sah mich nach etwas um, was als Waffe dienen könnte, ein großer Ast vielleicht, um notfalls auf den Köter einzudreschen, doch dazu blieb keine Zeit mehr. Erst jetzt hörte ich, wie sich eine Stimme mit dem Bellen vermischte. Keuchend rief ein Mann einen Namen, wohl den des Hundes, doch der reagierte nicht, sondern rannte immer schneller auf Aurora zu. Es war zu spät, uns irgendwie zu verteidigen. Mir fiel ein, dass ich irgendwo mal eine Empfehlung für Jogger gelesen hatte – dass man, wenn man von einem Hund angegriffen wurde, hohe Piepslaute ausstoßen sollte, weil die an einen Welpen erinnerten –, aber meine Kehle war wie ausgetrocknet. Anstatt ein Geräusch hervorzubringen, warf ich mich im letzten Augenblick vor Aurora. Ich glaubte sie schon zu spüren: die Pfoten, die sich in meinen Bauch und meine Oberschenkel gruben, die Zähne, die meine Haut aufrissen, tief ins Fleisch eindrangen, es zerfetzten. Aber dann, ganz plötzlich, blieb der Hund kaum drei Schritte von uns entfernt stehen. Er wurde nicht einfach langsamer, sondern erstarrte mitten in einer Bewegung, so, als sei das alles ein Film, den irgendjemand einfach angehalten hatte.
So steif wie der Hund stand auch Aurora. Eben noch wähnte ich sie sicher hinter mir versteckt, doch irgendwie war es ihr gelungen, sich an mir vorbeizudrängen.
»Benni, Benni, nicht!«, schrie eine Männerstimme. Dann kam er schon aus dem Wald gestürzt – ein bärtiger Mann mit Lodenjacke, verschwitzten Haaren und hochrotem Gesicht. Als er seinen Hund sah, erstarrte auch er.
Eine Weile rührte sich niemand – alle Augen waren auf Aurora gerichtet: Sie war nicht nur hinter mir hervorgetreten und hatte sich vor mich gestellt, sondern hatte auch ihre rechte Hand gehoben, die Finger durchgestreckt und gespreizt. Mit ihren blauen Augen, die mir nie so strahlend, nie so durchdringend erschienen waren wie jetzt, fixierte sie den Hund. Ihr Blick hatte ihn nicht nur davon abgehalten, uns anzufallen, sondern zwang ihn nun auch dazu, langsam zurückzuweichen. Das eben noch gesträubte Fell glättete sich; er begann fahrig mit dem Schwanz zu wedeln, und aus einem leisen Winseln wurde ein klägliches Jaulen, als er sich ganz flach auf den Boden legte und sich zurückschob. Er zitterte und wirkte so erbarmungswürdig, dass ich mich am liebsten niedergebeugt und ihn gestreichelt hätte. Nichts erinnerte mehr an den wilden, zähnefletschenden Hund, der er bis eben noch gewesen war.
Langsam ließ Aurora ihre Hand sinken. Der Besitzer des Hundes trat näher, mit zögerlichem Schritt und unsicherem Blick; sein Entsetzen, dass ihm sein Hund weggelaufen war, war zunächst Verlegenheit gewichen, dann tiefem Erstaunen.
»Benni«, stieß er tonlos aus, um nach einer Weile hinzuzufügen: »Das habe ich noch nie erlebt.«
Sein verwirrter Blick gingen zwischen Aurora und dem Hund hin und her.
»Wenn Sie Ihren Hund nicht unter Kontrolle haben, sollten Sie ihn besser anleinen.« Eigentlich hatte ich ihn barsch anfahren wollen, um meinem Schrecken Luft zu machen, doch meine Stimme passte nicht zu den erbosten Worten, sondern geriet fast so kläglich wie das Jaulen des Hundes. Auch ich konnte meinen Blick nicht von Aurora und diesem eingeschüchterten Tier lassen.
Eben trat sie auf den Hund zu. Einen Augenblick lang schien es, als würde er noch weiter zurückweichen, aber dann erhob er sich vorsichtig, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, und Aurora kraulte ihn kurz am Nacken. Unvermittelt ließ sie ihn wieder los und wandte sich mir zu. »Können wir hineingehen?«, fragte sie gleichmütig.
Ehe ich antworten konnte, schaltete sich der Besitzer ein: »Bitte … bitte zeigen Sie mich nicht an! Es ist doch nichts passiert!«
Ich runzelte die Stirn und konnte mir nicht recht erklären, warum ein nahezu panischer Unterton in seiner Stimme lag. »Nichts passiert?«, keuchte ich.
»Benni hat schon einmal eine Wanderin gebissen«, erklärte Aurora unvermittelt, ehe der Mann noch etwas hinzufügen konnte. »Wenn es noch einmal zu einem ähnlichen Zwischenfall kommt, muss er eingeschläfert werden.«
Entsetzt fuhr ich zu ihr herum, doch sie wich meinem Blick aus.
Woher wusste sie das?
Der Besitzer des Hundes reagierte nicht so bestürzt wie ich – offenbar hatte diese Geschichte längst die Runde gemacht, und er ging davon aus, dass wir davon gehört hatten. Mit hängendem Kopf stand er da und nickte kleinlaut. »So ist es.«
Ich brachte kein Wort
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