Der Kuss des Morgenlichts
Schultern und zog mich noch fordernder an der Hand. Diesmal folgte ich ihr, wenn auch mit gerunzelter Stirn zu einer Eisdiele.
»Krieg ich ein Eis?«, fragte sie, als sei nichts geschehen, und fügte ein eindringliches: »Bitte!« hinzu.
Ich nickte geistesabwesend, ehe wir uns am Ende einer langen Schlange anstellten.
Elektroboot … Ich hätte das nicht gewusst …
Als wir endlich an der Reihe waren, fragte ich, welches Eis sie wolle, weil ich – wie immer – für sie bestellen würde.
Doch anstatt mir eine Antwort zu geben, lächelte sie den Mann hinter dem Tresen freundlich an. Er war Italiener, was nicht nur seine dunklen Haare und seine gebräunte Haut, sondern auch sein Ausruf: »Che bella ragazza!« verrieten.
Zunächst strahlte er Aurora an, dann mich. »Und was für eine hübsche Mutter!«, fügte er hinzu. Ich erwiderte das Kompliment mit einem flüchtigen Lächeln, das schon im nächsten Augenblick schwand, als sich Aurora auf die Zehenspitzen stellte und in fließendem Italienisch ein Eis bestellte.
Ich stand wie erstarrt, fassungslos, dass Aurora ebenso selbstverständlich und akzentfrei Italienisch gesprochen hatte wie vorhin noch Englisch. Eine Weile lang nahm ich nichts wahr, weder die vielen verschiedenen Eissorten im Tresen vor mir, noch die Leute, die sich hinter uns drängten, und auch nicht den Italiener, der Aurora schließlich das Eis reichte.
»Mama, du musst zahlen!«
Ihre Stimme war das Erste, was zu mir durchdrang. Sie klang, als käme sie von weither. Ich zuckte zusammen, fühlte mich, als würde ich aus einem langen, dunklen Traum erwachen, dann griff ich gedankenverloren nach meiner Geldbörse. Ich suchte einige Münzen heraus und legte sie auf den Tresen, ohne zu überprüfen, ob der Betrag auch stimmte. Der Italiener winkte uns lächelnd hinterher, während ich mit steifen Schritten Aurora folgte. Aurora leckte ein paarmal an ihrem Eis.
»Willst du denn kein Eis, Mama?«
Alles drängte in mir, sie zur Rede zu stellen, zu fragen, woher sie die italienischen Worte kannte, die sie so sicher gebraucht hatte, aber ich ahnte, dass sie ähnlich reagieren würde wie vorhin, als ich nach ihren Englischkenntnissen gefragt hatte.
Sie hielt mir ihr Eis hin: »Du kannst meins haben. Es ist mir sowieso zu viel.«
»Hättest du dir das nicht vorher überlegen können!«, fuhr ich sie an. Meine Stimme klang schrill und verriet sämtliche Anspannung. »Du wolltest doch eben noch ein Eis.«
»Ja, aber jetzt nicht mehr.«
Sie drückte mir die Tüte förmlich in die Hand, und ich leckte geistesabwesend daran, ohne etwas zu schmecken. Meine Zunge und meine Lippen fühlten sich taub an.
Jetzt nicht mehr …
Das waren die Worte, die Aurora zu Nele gesagt hatte – damals in Salzburg, als sie aus einem ihrer Trancezustände erwacht war.
Ich mag kein Eis mehr.
Damals allerdings hatte sie so blass, so zerbrechlich gewirkt, hatte verwirrt vor sich hin gestarrt, als wüsste sie gar nicht recht, wo sie sich befand. Nun sprang sie frisch und mit geröteten Wangen vor mir her.
Das Eis schmolz in meiner Hand und tropfte über meine Finger. Ich warf es weg, als wir das Auto erreicht hatten. Nachdem sie eingestiegen war, konnte Aurora kaum ruhig sitzen; sie trommelte mit ihren Füßen auf den Vordersitz, während ich nach einem Taschentuch suchte, um mir die Hände abzuwischen. Ihr Trommeln machte mich nervös, aber ich biss mir auf die Lippen, um sie nicht wieder anzufahren.
Wieso konnte sie Englisch sprechen? Wieso Italienisch?
Nele sprach ein wenig Italienisch. Vielleicht hatte sie ihr beigebracht, wie man ein Eis bestellt.
Als wir wenig später vor der Villa hielten, war Aurora immer noch energiegeladen. Ich hatte das Auto kaum zum Stehen gebracht, da öffnete sie bereits den Gurt und sprang aus dem Auto. Ohne innezuhalten, wollte sie offenbar zum Haus laufen, aber plötzlich erstarrte sie – vom gleichen Geräusch gestoppt, das auch ich nun hörte.
Ich zuckte zusammen.
Lautes Bellen war hinter uns erklungen. Ich drehte mich zum Forstweg um, und von dort sah ich ihn auf uns zustürzen – einen riesigen Hund, mit schwarzbraunem Fell, buschigem Schwanz, zurückgelegten Ohren, wahrscheinlich ein Rottweiler. Er trug keinen Maulkorb, nicht einmal ein Halsband und schien ganz allein unterwegs zu sein.
»Aus!«, schrie ich panisch. Der Hund nahm mich gar nicht wahr, seine gelben Augen waren starr auf Aurora gerichtet. Er beschleunigte sein Tempo, bellte, knurrte zähnefletschend und stürzte
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