Der Kuss des Morgenlichts
schmerzhaft. Kaum war Caspar von Kranichstein verschwunden, hatte ich unter Auroras skeptischem Blick sämtliche Fensterläden geschlossen. Ich wollte die Tür nicht öffnen, zog Aurora stattdessen vom Sofa und presste sie fest an mich. So verharrten wir mitten im Wohnzimmer, und auch als es zum dritten Mal läutete, rührte ich mich nicht.
Aurora hatte das alles über sich ergehen lassen, doch nun sagte sie leise: »Ich glaube nicht, dass das … er ist.«
Wegen der geschlossenen Läden war es fast dunkel im Raum. Ich war mir nicht sicher, wie spät es war. Vier Uhr, fünf Uhr nachmittags? Wer würde um diese Tageszeit vorbeikommen?
Das Läuten hatte aufgehört, stattdessen hörte ich nun ein Klopfen, gefolgt von einer ärgerlichen Stimme. »Sophie? Sophie, bist du da? Das Auto steht doch hier! Wir haben ausgemacht, dass … «
Ich stürzte zur Tür und riss sie auf. Nele würde morgen oder übermorgen in Urlaub fahren – deswegen hatten wir vereinbart, dass sie uns noch einmal besuchen würde, weil sie sich unbedingt unsere Villa am Hallstättersee anschauen wollte. »Da bist du ja«, sie neigte sich vor, um mich zu umarmen und auf die Wangen zu küssen. Aber ich packte sie grob am Arm, zog sie über die Schwelle, blickte ängstlich nach allen Seiten und schlug die Tür wieder zu. Sofort drehte ich zweimal den Schlüssel um.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Nele und musterte mich irritiert.
Mein Herzschlag verlangsamte sich etwas. »Nichts, es ist nur … «
Besorgt sah sie mich eine Weile an. Dann zog sie ihre Jacke aus und hängte sie an den Haken. »Warum hast du mich denn so lange läuten lassen? Hast du Angst? Ist es wegen … «
Sie kam nicht weiter. Aurora war mir in den Flur gefolgt, rief jetzt sichtlich begeistert »Tante Nele!« und lief auf sie zu. Nele breitete lächelnd ihre Arme aus.
Ich beobachtete die Umarmung mit gemischten Gefühlen. Ich fühlte mich innerlich zerrissen – zwischen Erleichterung, weil Aurora in Neles Gegenwart ganz die Alte war, ein unbekümmertes, aufgewecktes Kind, dem der sonderliche Besuch nichts hatte anhaben können, und Misstrauen, weil sie sich bei ihr so normal gab, nicht belehrend und steif, nicht unnahbar und abgeklärt. Ich war verunsichert: Löste ich selbst vielleicht das alles in ihr aus? Mit meiner Scheu vor meinem eigenen Kind, dem Unbehagen, es zu berühren? Allerdings – das war doch Folge, nicht Ursache ihres Verhaltens!
Nele löste sich von Aurora. »Prächtig siehst du aus!«, stellte sie fest.
Das war die Übertreibung des Tages, denn so lebendig sie auch wirkte: Aurora war blass und dünn wie bei unserem letzten Treffen in Salzburg. Aber wahrscheinlich war Nele einfach nur erleichtert darüber, dass sie nicht reglos und einen imaginären Punkt fixierend in ihrem Zimmer hockte.
Dafür beschwichtigt sie wilde Hunde, lässt sich von unserem unheimlichen Nachbarn hypnotisieren und spricht perfekt Englisch, dachte ich, aber ich sagte es nicht laut.
»Du machst hingegen keinen guten Eindruck.« Nele war aufgestanden und zu mir getreten. »Hat es mit diesen … Morden zu tun?«, fragte sie.
Ich hatte in den letzten Tagen nicht mehr daran gedacht, aber das Thema dominierte weiterhin die Medien. Mittlerweile wurde in ganz Österreich darüber spekuliert, was es mit den drei Toten innerhalb weniger Wochen auf sich hatte. Der Tourismus würde wohl schon unter deutlichen Einbußen leiden, habe sie gelesen, sagte Nele gerade.
»Kannst du dich erinnern?«, fügte sie hinzu. »Damals, als wir noch studiert haben, gab es rund um den Untersberg auch eine Mordserie. Man hat den Opfern das Herz aus der Brust gerissen, grauenhaft!«
Ich deutete mit dem Kinn auf Aurora, um Nele zum Schweigen zu bringen, doch die schien nicht auf unsere Worte geachtet zu haben.
»Wie lange bleibst du, Tante Nele?«
»Nicht so lange, nur ein paar Stunden. Morgen fliege ich doch nach Rhodos.« Während ich in die Küche ging und Kaffee aufsetzte – nur für Nele, ich selbst war innerlich zu aufgewühlt, um welchen zu trinken –, hörte ich sie von dem Hotel schwärmen, das sie gebucht hatte. Aurora wirkte nicht sonderlich beeindruckt.
»Puh!«, machte Nele und folgte mir in die Küche, »war das heute ein anstrengender Tag. Diese letzten Tage vor dem Urlaub haben es immer in sich.«
Ich hatte Kaffeepulver verschüttet, wischte es rasch weg und hoffte, dass Nele nicht bemerkt hatte, wie stark meine Hände zitterten. Doch sie achtete nicht darauf, sondern erzählte
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