Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
Vom Netzwerk:
seinen langen Berufsjahren abgewöhnt. Ein grauenhafter Anblick wie dieser konnte ihn nicht mehr in den Tiefen seines Wesens erschüttern, sondern ihm bestenfalls die Laune verderben.
    »Ja?«, fragte er gedehnt.
    »Als ich den Toten fand, war ich eigentlich auf dem Weg zu Ihnen«, murmelte ich. »Ich wollte … ich wollte eine Anzeige erstatten.«
    »Ja?«, fragte er wieder.
    Ich atmete tief durch. Die Worte, die jetzt nur so aus mir heraussprudelten, klangen selbst in meinen Ohren wirr.
    »Caspar von Kranichstein … ich habe Angst vor ihm … er belästigt meine Tochter … ich will nicht, dass er ihr zu nahe kommt … gibt es eine Möglichkeit, es ihm zu untersagen?«
    Der Polizeibeamte sah mich kaum an, seine Augen wanderten immer wieder zum Tatort zurück. Noch deutlicher hätte er nicht zeigen können, was ihm gerade durch den Kopf ging: »Wir haben es hier mit der schlimmsten Mordserie seit Jahren zu tun … und Sie behelligen mich damit ?«
    Als ich verstummte, war mein Gesicht rot angelaufen. Schon seit langem hatte ich mich nicht mehr so verlegen gefühlt.
    »Wenn Herr von Kranichstein«, er sprach den Namen ganz selbstverständlich aus, wahrscheinlich kannte er ihn, »wenn Herr von Kranichstein Ihrer Tochter zu nahe kommt, wie Sie sagen, was tut er dann? Hat er sie … unsittlich berührt?«
    Er klang gleichgültig, als sei das – selbst wenn es so sein sollte – nicht sonderlich schlimm.
    »Nein«, murmelte ich, »nein, er hat mit ihr geredet, er hat sie angesehen, ihr über den Kopf gestreichelt … «
    Mit jedem Wort wurde ich unsicherer.
    Bevor ich den Toten gefunden hatte, war ich entschlossen gewesen, mir diese Besuche nicht länger bieten zu lassen. Doch jetzt wirkten all meine Sorgen und Ängste lächerlich – lächerlich an einem Ort wie diesem, wo ein Mensch einen grausamen, blutigen Tod gefunden hatte.
    »Er ist Ihr Nachbar, oder?«, fragte der Beamte.
    Wieder konnte ich förmlich hören, was ihm durch den Kopf ging: »Nachbarn kommen zufällig vorbei und sprechen schon mal Kinder an. Und Nachbarn dürfen über den Kopf streicheln. Wenn es weiter nichts ist … «
    Seine Augen waren weiterhin starr auf den Fleck gerichtet, wo eben noch die Leiche gelegen hatte. Reifen quietschten, als noch weitere Polizeiwagen anhielten; Beamte sprachen lautstark miteinander oder in Funkgeräte, Schritte knirschten auf dem Waldboden und wühlten ihn auf. Obwohl auf den ersten Blick nichts mehr an den Leichnam auf dem weichen Moosbett erinnerte, glaubte ich ihn noch dort liegen zu sehen, fühlte mich seinem entsetzten Blick ausgeliefert.
    »Es ist nicht so wichtig«, murmelte ich. »Sie haben jetzt wahrscheinlich andere Sorgen … «
    Er antwortete nicht, und ich beeilte mich, zum Auto zu kommen.

    Ehe ich die Villa betrat, ging ich eine Weile auf und ab, um mich zu beruhigen.
    Während ich tief die frische Luft einsog, schweifte mein Blick unwillkürlich hoch zu Caspar von Kranichsteins Besitz. Obwohl es noch nicht Nacht war, schien es hinter den hohen Glasfenstern stockdunkel zu sein. Saß er dort? Beobachtete er mich? Aber warum sollte er das tun, und was wollte er von Aurora?
    Ein Geräusch an der Tür ließ mich herumfahren, aber es war nur Nele, die mich gehört hatte und nun zu mir ins Freie trat.
    »Sophie, was machst du denn hier?«
    Kurz lag mir auf der Zunge, ihr alles zu erzählen: Von dem grauenhaften Fund, den ich gemacht hatte, von den leeren Augen des Leichnams, deren Bild ich nicht aus dem Kopf bekam, von der Vermutung der Polizei, dass man ihm die Halsschlagader durchschnitten hatte und er verblutet war. Und noch mehr hätte ich ihr gerne erzählt: von Auroras merkwürdigem Verhalten, von Caspar von Kranichstein, der diese hypnotische Macht über sie hatte, von meinem Entschluss, ihn anzuzeigen, der dann wieder ins Wanken geraten war. Doch stattdessen schwieg ich. Ich konnte mich nicht überwinden, es ihr zu sagen. Es auszusprechen, hieß, es noch einmal zu durchleben.
    »Ist mit Aurora alles in Ordnung?«, fragte ich stattdessen schnell.
    »Natürlich! Wir haben uns Bilderbücher angesehen. Eben wollte sie ins Bett gehen. Die Luftveränderung scheint ihr gut zu tun … was man von dir nicht sagen kann. Was ist denn nur mit dir los? Wo bist du gewesen?«
    »Wie gesagt, ich musste etwas besorgen«, wich ich aus.
    Sie zog skeptisch ihre Stirn in Falten, was ich ihr nicht verdenken konnte. Es gab nicht mal eine Tüte, die ich von meinem angeblichen Einkauf mitgebracht hatte.
    Ich senkte unter

Weitere Kostenlose Bücher