Der Kuss des Morgenlichts
sondern schwarz.
Konnte es sein, fragte ich mich, konnte es sein, dass man im Schockzustand keine Farben mehr wahrnahm, sondern nur noch schwarz und weiß sah?
Der Wald war schwarz … und der Leichnam weiß.
Direkt unter dem roten T-Shirt, auf einem weichen Moosbett, das von einer knorrigen Baumwurzel aufgerissen wurde, lag ein Toter, und er starrte mich aus weitaufgerissenen Augen an.
V.
Die Farben kehrten wieder zurück. Der Wald war immer noch schwarz und der Tote immer noch weiß, aber die Uniformen der Polizeibeamten waren dunkelgrün.
Ich wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, seit ich den Toten gefunden hatte. Nachdem ich die Polizei informiert hatte, hatte ich mich ins Auto gesetzt, die Tür verriegelt und gewartet. Ich hatte mich dem Anblick nur kurz ausgesetzt, dennoch hatte sich jedes grässliche Detail in mein Gedächtnis eingeprägt, und diese Eindrücke zogen wie in einer Endlosschleife an mir vorbei, immer eindringlicher, grausamer, abstoßender.
Die Augen.
Am schlimmsten waren ohne Zweifel die weitaufgerissenen Augen. Sie spiegelten nicht nur die schwarze Leere des Todes, sondern die letzten Gefühle, die dieser Mensch durchlitten hatte: namenlose Angst, Grauen, Panik, das sichere Wissen um sein baldiges Ende.
Der Mann war wohl noch nicht alt gewesen; sein dichtes braunes Haar wies keine einzige weiße Strähne auf, der Körper wirkte muskulös und durchtrainiert. Und dennoch hatte die weiße Haut greisenhaft gewirkt. An manchen Stellen glich sie einer schlaffen Hülle, deren einstiger Inhalt längst geschrumpft war, an anderen wiederum war sie so unnatürlich aufgebläht, als habe man die leere Hülle wieder gefüllt.
Ein anderes Detail war fast so unerträglich wie der leere Blick: Die Hände des Toten, die nichts mit denen eines Menschen gemein hatten. Als mein Blick darauf gefallen war, musste ich unwillkürlich an ein Kinderbuch von Aurora denken. Darin gab es die Zeichnung eines Waldmenschen, aus dessen Armen anstelle von Fingern Baumwurzeln quollen. Ähnlich dunkel, knorrig und verschorft waren auch diese Hände, nicht, weil sie sich in Holz verwandelt hatten, sondern weil sie über und über mit Blut bedeckt waren, verkrustet und schwarz geworden. Das eigene Blut? Das seines Mörders? Das Moosbett, auf dem er lag, war ebenfalls dunkel – vollgesogen mit einer zähen Flüssigkeit, die nicht an Blut erinnerte, sondern an Pech.
Die Polizisten kamen zu dem Schluss, dass sich der Mann verbissen gegen seinen Angreifer gewehrt und sich dabei schwere Verletzungen an seinen Händen zugezogen hatte. Mit der eigentlichen Todesursache habe dieses Blut jedoch nichts zu tun. Gestorben war er an einem tiefen Schnitt an der Halsschlagader, der ihn schlichtweg verbluten ließ. Wobei eine Sache merkwürdig sei, überlegte einer der Beamten laut. Eine solche Verletzung würde normalerweise eine Blutspur hinterlassen; wie eine Fontäne hätte das Blut hochspritzen müssen, eine breite Linie hinterlassen, umgrenzt von immer dünneren Sprenkeln. Doch auf den umliegenden Bäumen und Büschen ließ sich nichts dergleichen finden.
»Er hätte viel mehr Blut verlieren müssen als das, in dem er liegt«, sagte der Beamte.
Ich lauschte stumm. Als die Polizei eingetroffen war, war ich aus dem Auto gestiegen und hatte sie zum Fundort geführt. Dort stand ich auch jetzt noch, meine Augen hartnäckig auf einen Baumstamm gerichtet, um dem Anblick der Leiche auszuweichen. Ich sah erst wieder auf den Waldboden, als ein Krankenwagen kam und der Tote – unter einem dunklen Tuch verborgen, wodurch sich die Konturen des steifen Körpers abzeichneten – abtransportiert wurde.
Einer der Polizisten trat zu mir: »Sie können jetzt gerne gehen, Frau Richter. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.«
Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, ob ich einem seiner Kollegen überhaupt meine Adresse und Namen genannt hatte. Noch sehr gut im Ohr hatte ich aber die wenigen Worte, mit denen ich erzählt hatte, wie ich den Toten gefunden hatte und was mich auf ihn hatte aufmerksam werden lassen.
Mittlerweile war das rote T-Shirt aus Ästen befreit und in einer Plastiktüte verpackt worden.
»Oder wäre es Ihnen lieber, wenn jemand Sie nach Hause begleitet?«
Ich schüttelte stumm den Kopf, wandte mich zum Wagen, blieb dann aber auf halbem Weg noch einmal stehen.
»Entschuldigen Sie … «, setzte ich an.
Der Mann drehte sich um. Er wirkte vollkommen ruhig. Wahrscheinlich hatte er sich sämtlichen Ekel in
Weitere Kostenlose Bücher