Der Kuss des Morgenlichts
Caras Beschwichtigungsversuche. Es gab keinen Raum für etwas anderes als die Fassungslosigkeit, die mich erfüllte – und ein zweites Gefühl, das ich mir niemals eingestanden hätte, wenn mein Verstand fähig gewesen wäre, sich dagegen zu wehren: Zuneigung, so tiefe Zuneigung.
Ich hatte nie ein Foto von ihm besessen. Und von Jahr zu Jahr hatte ich das Gefühl gehabt, die Erinnerung an ihn würde mehr und mehr verblassen. Den Klang seines Cello-Spiels konnte ich jederzeit heraufbeschwören, aber nicht den Klang seiner Stimme. Auroras blaue Augen erinnerten mich jeden Tag an seine, aber was die Züge seines Gesichts betraf, seine Größe, seine Haare, seine Statur, glaubte ich das meiste vergessen zu haben. Doch es war ein Irrtum, dass Zeit und Verdrängung aus ihm einen Fremden gemacht hätten. Ich stand vor ihm, und er war mir nah, als wäre ich in all den Jahren jeden Abend mit ihm schlafen gegangen und jeden Morgen mit ihm aufgewacht, als hätte ich oft sein Gesicht gestreichelt – dieses blasse, feine, schöne Gesicht –, als hätte ich mich an seine Gestalt gepresst, geschmeidig, sehnig, schlank. Er hatte sich nicht im Geringsten verändert; die sieben Jahre waren ohne Spuren zu hinterlassen an ihm vorbeigegangen, und plötzlich fühlte auch ich mich, als sei ich auch wieder die Neunzehnjährige von einst, etwas linkisch und schüchtern, bei der geringsten Aufregung errötend, dennoch ehrgeizig und entschlossen, manchmal schroff und stur, meist, um die eigene Verletzlichkeit zu verbergen.
»Sophie … « Diesmal war seine Stimme lauter als das Rauschen. Sie tat unglaublich weh. So weh, wie ein Musikstück weh tun kann, das eigentlich viel zu schön ist, um es ertragen zu können, das überwältigt, atemlos macht, Tränen in die Augen treibt.
Langsam, ganz langsam perlten diese Tränen über meine Wangen, bis zu meinen Lippen, salzig und heiß, – und diese Tränen waren es, die mich wieder zur Besinnung brachten.
Ich hatte schon so viele Tränen um ihn geweint. Zu viele. In den Tagen, Wochen, Monaten, nachdem er mich einfach verlassen hatte.
»Was machst du hier?«, fragte ich heiser.
Anstatt zu antworten, trat er näher. Ich glaubte die Wärme seines Körpers zu spüren und wurde ganz und gar von seinem Geruch eingehüllt. Es war so angenehm, so wohlig, als würde ein seidenweiches Tuch über mich gelegt, mich liebkosen, mich wärmen – und dabei auch alles ein klein wenig besänftigen: den Schrecken, ihn zu sehen, den Schmerz, den die Erinnerungen heraufbeschworen. Unwillkürlich trat ich zurück und hob abwehrend die Hände.
»Komm mir nicht zu nah!«, schrie ich, obwohl noch genügend Abstand zwischen uns war und er mich nicht berühren konnte. Meine Stimme überschlug sich, war nicht weich, samtig und melodisch wie seine, sondern schrill und hart. Sie verriet nichts von der Vertrautheit, der Sehnsucht, der Erinnerung an das einstige Glück – sie verriet nur Enttäuschung, Einsamkeit und Härte.
Ich fuhr zu Cara herum. »Was macht er hier?«, schrie ich. »Woher kennst du ihn?«
Vorhin noch, als ich in ihr Haus gestürmt war, hatte Cara zutiefst erschrocken gewirkt. Nun war ein wissender Ausdruck in ihren Augen – so als würde sie sich ganz genau vorstellen können, was in mir vorging, und als wäre sie zugleich erleichtert, dass sie nicht länger ein Geheimnis hüten musste.
»Sophie, lass dir erklären … «, sagte sie leise. Sie berührte mich wieder, wollte mich offenbar zum Sofa ziehen.
»Nein!« Ich entriss ihr heftig meinen Arm, schlug ihre Hand zurück. »Nein, es gibt keine Erklärung! Nicht für das, was er getan hat!«
Ich wandte mich wieder Nathan zu; trotz aller ebenso hitzigen wie gerechten Wut, die in mir hochstieg, war ich zutiefst verunsichert. Seine Präsenz war so stark – trieb mir nicht nur neue Tränen in die Augen, sondern schien mich einzulullen. Doch er senkte seinen Blick, und während mich das strahlende Blau seiner Augen noch bannen konnte, war es jetzt so viel leichter, mich in einer wilden Tirade zu ergehen, ihn zu beschimpfen, ihm alles an den Kopf zu werfen, was ich ihm nie hatte sagen können. Nach Auroras Geburt hatte ich darum gerungen, meine Wut auf ihn zu unterdrücken – aber irgendwo hatten sich all die Enttäuschungen angestaut, die ich ihm nun, stinkend und ranzig, vor die Füße spuckte. Kaum begonnen, konnte ich nicht mehr damit aufhören. Es war, als würde ich immer tiefer in einen dunklen Strudel geraten, an dessen Ende das lauerte, was
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