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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Henoch werden sie manchmal als Awwim bezeichnet, als Schlangensöhne, und so nennen wir sie bis heute. Anders als wir halten sie uns Nephilim nicht für einen Missgriff der Natur, eine Fehlentwicklung, die es rückgängig zu machen gilt, sondern für die Krönung der Schöpfung. Sie wollen die Herren der Welt sein, und ihrer Gier nach Macht ordnen sie alles unter. Unsere Ziele sind also grundverschieden. Und das führt dazu, dass sich die Wächter und die Schlangensöhne in einem steten Kampf befinden.«
    »Aber von diesem Kampf ist im Buch Henoch doch nicht die Rede?«, fragte ich.
    »Er wird zumindest angedeutet. Die Erzengel Gabriel, Raphael, Michael und Uriel – so heißt es dort – haben beobachtet, wie die Menschen von den Awwim geknechtet, ausgebeutet und vernichtet wurden und bekamen von Gott den Auftrag, dagegen vorzugehen. Genau das ist unsere Aufgabe – die Menschen vor den Awwim zu bewahren. Wenn es uns nicht gäbe und wir uns ihnen nicht immer wieder in den Weg gestellt und sie im Laufe der Geschichte immer wieder dezimiert hätten – mit hohen Verlusten auf unserer Seite –, so wäre die Menschheit wohl schon seit langem ausgerottet. Die Awwim morden rücksichtslos. Längst sind sie dabei nicht mehr nur von der Gier nach Fleisch und Blut getrieben wie in der Anfangszeit. Sie töten Menschen, und wenn es ihnen gelingt auch uns, um auf diese Weise neue Kräfte und Fähigkeiten zu erlangen.«
    Mein Denken lahmte. Eben noch hatte ich geglaubt, das Wichtigste erfasst zu haben – die unsterbliche Rasse, die beiden Geschlechter und der ewige Kampf, in dem sie sich befanden –, doch nun hatte ich das Gefühl, Nathans Worten hinterherzuhinken.
    »Neue Kräfte und Fähigkeiten?«, wiederholte ich verwirrt.
    »Davon steht nichts im Buch Henoch«, erwiderte er, »über den wahren Grund für die Gier nach Menschenfleisch und Menschenblut … «
    Fast stakkatoartig sprach er, so als würde er das, was er da sagte, zum hundertsten Mal wiederholen. War das so, fragte ich mich unvermittelt. Hatte er vor mir schon anderen Menschen diese Ungeheuerlichkeit begreiflich zu machen versucht? Menschen, die wie ich Zeugen von unerklärlichen Ereignissen geworden waren und die solche Geschichten nicht mehr als lächerlich abtun konnten, sondern als Wahrheit akzeptieren mussten?
    Ich verkreuzte unwillkürlich meine Hände vor der Brust, als müsste ich mich vor seinen Worten schützen, obwohl mein Geist fieberhaft darum kämpfte, jedes einzelne Wort zu verstehen, sich zu merken, zu deuten.
    »Wir Nephilim sind unsterblich, aber wir sind keine Wunderwesen«, fuhr Nathan fort. »Wir haben viel mit den Menschen gemein, wir sehen aus wie sie, und wir können nichts, was nicht auch sie können. Der wichtigste Unterschied ist jedoch unsere Fähigkeit, sämtliches Wissen, sämtliche Begabungen und körperlichen Kräfte zu potenzieren. Das liegt nicht nur daran, dass wir so viel mehr Zeit haben, uns das alles anzueignen und zu trainieren. Es hat vielmehr damit zu, dass wir von anderen Nephilim, aber eben auch von Menschen Fähigkeiten rauben können, indem wir … indem wir … «, er machte eine kurze Pause, ehe er sich überwand, fortzufahren, »indem wir sie töten.«
    Ich riss die Augen auf, doch er wich meinem Blick aus und setzte hastig hinzu: »Wir stehlen sozusagen Talente, sammeln sie und werden auf diese Weise immer stärker, immer vielseitiger und genialer. Je nachdem, worin die Talente der Opfer liegen, nehmen unsere körperlichen Kräfte und unsere Intuition, unsere künstlerische Begabung und unser intellektuelles Wissen zu. Je älter ein Nephil oder eine Nephila ist und je mehr Menschen oder andere Nephilim er getötet hat – desto mächtiger und auch gefährlicher wird er.«
    Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Die Möglichkeit, dass man Talente rauben konnte, als wären diese etwas Greifbares, Materielles, erschien mir völlig absurd. Ein Bild huschte durch meinen Kopf, unrealistisch wie die Szene aus einem Hollywood-Film, von einem menschenähnlichen Wesen , das über einen Leichnam gebeugt steht und dessen nebulösen, schattengleichen Geist an sich reißt, indem es einen tiefen, gierigen Atemzug nimmt. Ich schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben. Doch noch etwas anderes verwirrte mich. »Aber wenn die Nephilim doch unsterblich sind – wie kann dann ein anderer sie töten, um ihre Talente zu rauben?«
    »Ein normaler Mensch kann es nicht«, erklärte er, »nur ein Nephil ist dazu fähig, eine

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