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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Sterben absehbar gewesen ist, ich es nur beschleunigt habe. Wenn ich es so betrachte, scheint meine Schuld nicht ganz so schwer auf mir zu lasten. Aber eigentlich kann nichts mir die Gewissheit nehmen, dass es falsch war, dass es verboten war. Wir dürfen für den Kampf töten, um uns zu rüsten und zu stärken, damit wir die Awwim besiegen oder zumindest unter Kontrolle halten können … aber wir dürfen nicht für uns selbst töten.«
    »Und warum hast du es dann trotzdem getan?«, fragte ich – meine Neugierde hatte endgültig die Angst vor dem Grauen besiegt.
    »Andrej Lasarew war Musiker … Cellist … wahrscheinlich der begnadetste, den die Welt jemals gesehen … gehört hätte … wenn er nur lange genug hätte leben dürfen. In einer der dunkelsten Stunden meines Lebens hörte ich ihn eines Tages spielen: So viele Tote säumten meinen Weg, so viele Schlachten mit den Awwim habe ich geschlagen, die nie eine letzte Entscheidung brachten. Wir vernichteten einander nicht, wir rieben uns nur aneinander auf … Ich war des Kampfes so überdrüssig! Ich wollte nicht mehr, fragte mich jeden Tag, ob es immer so weitergehen sollte! Ich weiß, wir dürfen nicht wie Menschen denken, nicht wie sie fühlen, nie auf ihre Unbeschwertheit hoffen und nach dem eigenen Glück streben. Glück und Zufriedenheit – das zählt für uns nicht. Für uns zählt nur unsere Bestimmung, unser Auftrag. Aber als ich Andrej spielen hörte, da war es mir plötzlich, als würde ich die Welt in einem anderen Licht sehen, heller, strahlender, bunter, ja, als würde ich sie so wahrnehmen wie die Menschen sie wahrnehmen, so viel facettenreicher und so viel schöner. Ich hörte ihn Cello spielen, war wie verzaubert und wollte es unbedingt auch können. Ich war besessen von der Idee, dass ich nicht nur ein Cellist, sondern auch ein Mensch wie er sein könnte, wenn ich erst über seine Gabe verfügte.«
    »Und deswegen hast du ihn getötet«, stellte ich fest.
    »Ja«, gab er zu. »Deswegen habe ich ihn getötet. Für mich. Nur für mich. Nicht für den Kampf. Man besiegt die Awwim nicht mit den Klängen eines Cellos.«
    Sein Blick bohrte sich in meinen. Die Klänge, die Andrej Lasarew auf dem Cello hatte erzeugen können, schienen in seinem Kopf widerzuhallen – und kurz hatte ich das Gefühl, auch ich könnte sie vernehmen. Rachmaninow, schmerzlich, sehnsuchtsvoll, süß, verzweifelt, wirr, hoffnungsvoll.
    Mein Mund wurde mir trocken. Übermächtig wurde der Wunsch, die Musik zu hören, nein, nicht nur zu hören, sondern selber wieder zu spielen, am Klavier zu sitzen, mit den Tasten zu verschmelzen, mit jener Leichtigkeit, die mir seine Gegenwart geschenkt hatte, Melodien zu erschaffen. Und noch eine andere Sehnsucht stieg in mir auf – beflügelt von der Musik – die Sehnsucht, einfach aufzustehen, zu ihm zu gehen, ihn an mich zu ziehen und ihn zu spüren. Verrückt war das, verrückt! Gerade jetzt nach dieser Offenbarung! Es war so viel naheliegender, vor ihm zurückzuschrecken, sich zu ekeln, ihn zu verachten und zu verurteilen, vielleicht sogar, ihn zu fürchten. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte ihn nur … lieben. Durfte ihn wieder lieben. Musste es mir nicht länger verbieten, weil er mich verraten und verlassen hatte. Konnte ihn anschauen und glauben, dass auch er mich liebte und dass er damals nicht gegangen war, weil ich ihm gleichgültig oder nicht gut genug gewesen war.
    Er senkte den Blick – es war, als würde die Musik verstummen. Der Augenblick, die Umarmung zu suchen und Trost zu spenden, war vorbei, und zurück blieb nur Befremden, mir dergleichen gewünscht zu haben.
    »Und ich?«, fragte ich, und meine Stimme wurde wieder kalt, gab nichts von der Intensität meiner Empfindungen preis, die mich eben noch überrollt hatten. »Ich bin … ich war eine begabte Pianistin … hast du je mit dem Gedanken gespielt, auch mich zu töten? Damit du Klavier spielen kannst?«
    Er zuckte zusammen. »Niemals!«, rief er aufrichtig entsetzt. »So etwas darfst du nicht denken! Nicht auch nur einen Moment lang! Ich habe damals … «
    »Aber was soll ich denn sonst denken?«, unterbrach ich ihn scharf. »Wenn du kein Mann bist, sondern einer dieser … dieser … Nephilim. Wenn du dafür lebst, deinesgleichen zu vernichten – warum hast du dich überhaupt mit mir abgegeben? Was wolltest du von mir?« Ich versuchte weiterhin, kalt zu klingen, gleichgültig und sachlich, aber meine Stimme geriet gepresst. Eine ganz andere Frage lag mir

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