Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
Vom Netzwerk:
setzte ihm sichtlich zu. Seine Schritte wurden schneller, er rang mit seinen Händen. Als er antwortete, senkte er wieder seinen Blick. »Im Allgemeinen gilt, dass wir nur Awwim vernichten dürfen, um unsere Fähigkeiten zu erweitern. Menschen zu töten, ist uns verboten – eigentlich. Doch das Wohl der Allgemeinheit steht über dem Wohl des Einzelnen. Und deshalb machen wir Ausnahmen. Wenn wir bestimmte Kräfte und Fähigkeiten unbedingt brauchen, um den Awwim ebenbürtig zu bleiben, und wenn es nicht möglich ist, diese Kräfte und Fähigkeiten durch einen anderen Nephil zu erhalten, so ist es uns erlaubt, dafür einen Menschen zu töten. Dieser Mensch wird zum Schutz der Allgemeinheit geopfert.« Seine Hände waren ineinander verschlungen.
    »Und hast du … «, setzte ich an, doch die Worte blieben mir in der Kehle stecken.
    »Es gibt Begabungen, die so selten sind, dass wir unmöglich darauf verzichten können, sie zu bekommen – Begabungen, über die nur wenige Menschen und Nephilim verfügen. Das sind nicht so sehr körperliche Fähigkeiten, als vielmehr seltene geistige Gaben: Telepathische oder telekinetische Begabungen zum Beispiel. Stark, wendig, geschickt sind wir alle, auch ungewöhnlich klug, belesen, sprachenkundig … aber nur ganz, ganz wenige von uns können Gedanken lesen.«
    »Und falls ihr auf einen Menschen trefft, der das kann«, versuchte ich das Unfassbare zu fassen, »dann tötet ihr ihn … «
    Für eine Weile herrschte eine angespannte Stille zwischen uns. Jede Faser meines Körpers war angespannt, nicht nur vor Grauen, das tief in mir wucherte und das ich mit aller Macht zu unterdrücken versuchte, sondern auch vor Konzentration. Ich ahnte, dass es einen Grund gab, eine guten Grund, warum er mir so schnell so viel erzählte, mich nicht langsam und behutsam in diese fremde Welt einführte – eine Welt inmitten der meinen und doch nicht sichtbar für die Uneingeweihten. Wer oder was immer unsere Zeit begrenzte – sie war zu kurz, damit er Gesagtes wieder und wieder erklärte, und so durfte auch ich keinen Halbsatz, ja kein Wort überhören.
    »Es gibt auch Talente, die eigentlich nur bei Menschen und so gut wie nie bei Nephilim zu finden sind«, fügte er hinzu, »da sie für die Nephilim schlichtweg uninteressant, weil nicht nützlich sind. Im Kampf zwischen uns ist es nun mal nicht notwendig, ein Maler, Bildhauer oder Musiker zu sein. Darum leben die meisten künstlerisch begabten Menschen von uns gänzlich unbehelligt.«
    Er stoppte seine unruhigen Schritte und verharrte mitten in der Bewegung, offenbar von der Wucht einer Erinnerung getroffen, die sein Gesicht noch mehr verdunkelte. Ich schwankte zwischen Mitleid, weil er in sichtlichen Qualen gefangen war, und Grauen, noch tiefer in diese Abgründe vorzudringen. Schweig doch!, wollte ich am liebsten rufen. Es ist genug, es reicht! So viel hatte ich gehört … so viel erfahren … zu viel, um innerhalb weniger Minuten damit fertig zu werden.
    Doch ich gab diesem Drang nicht nach, blieb stattdessen angespannt sitzen und stellte mit zittriger Stimme die Frage, die ich eben noch nicht aussprechen konnte: »Wie viele Menschen hast du getötet?«
    »Im Kampf ließ es sich manchmal nicht vermeiden … «, setzte er gedehnt an. Er trat an eine der Wände, lehnte sich daran, wirkte plötzlich, trotz seiner Schönheit, seiner aufrechten Haltung und seiner Größe, so verloren, so elend.
    »Aber einmal«, er schien es nur schwer über seine Lippen zu bringen, seine Stimme wurde leise, »einmal tat ich es nicht, um die Menschen zu schützen, sondern nur für mich. Aus reinem Eigennutz. Mit voller Absicht.«
    »Wann?«, fragte ich. Zu meinem Erstaunen schwand das Zittern aus meiner Stimme. Er beichtete mir einen Mord, und ich war nicht entsetzt, schien vielmehr endgültig eine Grenze zu überschreiten, hinter der es zwar galt, möglichst viel Wissen zu sammeln, nicht aber, es auch zu bewerten, hinter der Sünden nur benannt, aber nicht geahndet werden konnten. Ich richtete mich auf, fixierte ihn. »Wann?«, fragte ich wieder. »Und wen?«
    »Andrej Lasarew«, presste er mühsam hervor. »Ja, so hieß er. Andrej Lasarew. Es war Anfang dieses Jahrhunderts. Andrej war krank … lungenkrank … erst 25 Jahre alt. Wahrscheinlich wäre er ohnehin gestorben.« Er atmete heftig aus und fügte schnell hinzu: »Das versuche ich mir seitdem zumindest einzureden. Dass ich ihn nicht ermordet, sondern ihm nur einen gnädigen Tod geschenkt habe. Dass sein

Weitere Kostenlose Bücher