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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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zwischen Verwirrung und Erleichterung.
    Er wandte sich wieder von mir ab. »Ich habe ja erwähnt, dass die Auserwählten von einem unerkannten Nephil abstammen, also vom Kind eines Nephils und eines Menschen, das nichts von seinem wahren Erbe weiß und nie entsprechend erzogen wurde. Das heißt, die Wesen, die wir zeugen, müssen nicht in jedem Fall zu Nephilim werden. Die ersten sieben Jahre gleichen sie alle ganz normalen Menschenkindern.«
    »So wie Aurora … «, murmelte ich.
    »Ja, auch bei Aurora muss es so gewesen sein. Es gab früher keine Anzeichen, dass sie besonders ist, nicht wahr? Wahrscheinlich war sie scheuer und zurückhaltender als die anderen, aber nicht auf besorgniserregende Weise.«
    Ich nickte. »Erst als sie sieben Jahre alt wurde, hat sie sich verändert.«
    »Ja, ab dem siebten Lebensjahr beginnt die Verwandlung. Das wahre Erbe dringt durch … «
    Jetzt hatte ich ein Bild vor Augen – das Bild von Auroras Kinderzimmer in Salzburg und wie sie reglos auf dem Bett saß …
    »Zuerst hat sie immer nur auf diesen imaginären Punkt gestarrt, so, als ob sie in Trance versunken wäre; sie hat ihren Appetit verloren, ihre Lebenslust, und dann … als wir hierherkamen … «
    Ich brach ab.
    »Wenn kein anderer Nephil oder keine Nephila sie entsprechend schult«, fuhr Nathan fort, »dann bleiben diese Kinder Menschenkinder, unentdeckte Nephilim eben. Sie müssen von unseresgleichen sozusagen ›erweckt‹ und ausgebildet werden, und es ist keine sonderlich lange Zeitspanne, die dafür bleibt. Wenn es nicht bis zum 14. Lebensjahr geschieht, ist es zu spät für die Verwandlung.«
    »Das heißt, diese Kinder, diese unentdeckten Nephilim können ein normales Leben führen?«, fragte ich hoffnungsvoll.
    »Nicht unbedingt. Manche schon, andere wiederum bleiben innerlich zerrissen und fühlen ihr Leben lang, dass sie irgendwie anders sind. Einige von ihnen sind besonders hoch begabte, feinfühlige Menschen, vielleicht sogar Genies, andere hingegen erweisen sich als labil, psychisch krank, ja, manchmal auch als Psychopathen. Viele große Künstler sind unerkannte Nephilim, aber auch viele Diktatoren, Mörder, Verrückte … «
    »Und in der Reihe meiner Vorfahren gab es also einen von ihnen«, versuchte ich seine Worte zu begreifen, »was mich zur Auserwählten macht. Aber Aurora … diese besonderen Fähigkeiten, über die sie plötzlich verfügt – dass sie fremde Sprachen spricht, Tiere beschwichtigt, Dinge weiß, die sie nicht wissen kann – … das hat nicht mit dem siebten Geburtstag begonnen, sondern erst seit … « Ich zögerte. »Caspar … «, stieß ich schließlich hervor.
    »Ja«, bestätigte er düster. »Caspar von Kranichstein. Er war der Anstoß. Er hat das Erbe in ihr wachgerufen: Fähigkeiten, die sie von mir hat – oder von einem meiner Vorfahren.«
    »Und Caspar ist einer der Schlangensöhne«, erkannte ich schlagartig.
    Nie war mir sein Zischeln so deutlich im Ohr wie in diesem Moment. Allerdings war es das Einzige, was mich an eine Schlange erinnerte. Wenn ich an seinen lauernden Blick dachte, seine dürre Gestalt, seinen etwas steifen Gang – so hatte er mehr von einer Spinne, die ihr tödliches Netz webt und dort ihre Opfer erwartet …
    Ich fröstelte, als ich ihn vor mir sah, wie er mit erhobenem Schwert und heimtückisch grinsend auf mich zukam.
    »Ja«, sagte Nathan wieder. »Caspar und ich … wir sind etwa gleich alt, an die achthundert Jahre, und sind uns im Laufe unseres langen Daseins immer wieder über den Weg gelaufen. Genau betrachtet kennen wir uns schon seit frühester Kindheit. Damals hatten wir unsere ersten Kämpfe, doch sie sind immer unentschieden ausgegangen. Später sind wir dazu übergegangen, uns aus dem Weg zu gehen, um den Kampf zu meiden. Denn keiner von uns beiden kann sicher sein, ihn zu überleben. Caspar war und ist gewiss nicht mein einziger Feind – und ich bin sicher nicht der einzige Wächter, der gerne seinen Tod sehen würde. Und dennoch gibt es keinen, der mich mehr hasst als er – und niemanden, den ich selbst so sehr verachte wie ihn.«
    »Als er Aurora berührte«, auch diese Szene stand mir nun eindringlich vor Augen, »als er sie hypnotisierte … sie hat sich verkrampft … Schaum gespuckt … «
    »Weil der menschliche Anteil in ihr kurz völlig überfordert war, ihr Gehirn diesen Augenblick des Erwachens nicht ertrug … «
    »Du … «, stammelte ich, »du bist in ihr erwacht. All das, was du kannst.«
    »Nicht ganz«, widersprach

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