Der Kuss des Morgenlichts
auf der Zunge. Ich wollte sie herausschreien: Warum hast du mir mein Herz gebrochen?
Ich musste es nicht aussprechen. Er schien zu ahnen, was ich fühlte, denn sein Gesicht spiegelte meinen Kummer, verriet, dass er in all den Jahren genauso gelitten hatte wie ich.
»Du gehörst zu den wenigen Auserwählten«, flüsterte er heiser. »Darum, nur darum … «
»Auserwählt?«, unterbrach ich ihn. »Auserwählt wozu?«
Er nickte, schien sich bewusst zu werden, dass ich, so verständig und konzentriert ich war, immer noch so vieles nicht wusste. Er ging wieder auf und ab, hieb seine Fersen dabei förmlich in den Boden und erklärte mir gehetzt: »Im Kampf der Wächter gegen die Schlangensöhne gibt es Verluste auf beiden Seiten. Um sie auszugleichen, um zu verhindern, dass die andere Seite stärker wird, müssen wir uns fortpflanzen. Doch das geht nicht mit unseresgleichen. Es liegt in unserer Natur, dass wir nur mit Menschen Kinder zeugen können. Ich wollte das nie. Ich wollte nicht schuld sein, dass irgendeine Kreatur mein Leben zu führen hätte und dass … «
Er brach ab, offenbar war ihm bewusst geworden, dass er eben auch Aurora so bezeichnet hatte. Als eine Kreatur …
»Es tut mir leid«, murmelte er.
Ich sagte nichts, verdrängte auch den Gedanken an Aurora. Ich konnte mich mit ihrem Schicksal – dem Schicksal eines Nephilim-Kindes – erst auseinandersetzen, wenn ich mehr über die Wesen wusste. »Und warum bin ich nun eine Auserwählte?«
»Es gibt nicht viele Menschen, mit denen sich Nephilim einlassen«, fuhr er fort. »Denn sie müssen bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Die Auserwählten, wie wir sie nennen, sind ganz besondere Menschen, feinfühlige, begabte, hochtalentierte … meist Menschen, die von einem unerkannten Nephil abstammen, die also, ohne es zu wissen, schon unser Blut in sich tragen. Menschen wie du, Sophie. Sie ziehen uns geradezu magisch an, üben eine Macht auf uns aus, der wir uns kaum widersetzen können. Sie … «
Er brach ab, als gäbe es keine rechten Worte, um zu beschreiben, was er damals gefühlt hatte.
Plötzlich erinnerte ich mich an das, was er in unserer ersten und einzigen Liebesnacht gesagt hatte.
Ich habe versucht, dagegen anzukämpfen.
Damals hatte ich ihn nicht gefragt, was er genau damit meinte. In diesem Augenblick ahnte ich nicht, welche Tragweite dieser Satz hatte.
»Die Menschen verfügen über einen freien Willen«, fuhr er fort. »Bei uns ist das etwas anders. Ja, ich habe oft mit meinem Auftrag gehadert, mich ihm häufig widersetzt; ich habe natürlich auch eigene Entscheidungen getroffen – dass ich mir Andrej Lasarews Begabung aneignet habe, war eine solche. Und dennoch: Wir Nephilim werden von etwas getrieben, was ähnlich stark ist wie der Instinkt bei Tieren. Wir können uns dagegen wehren, aber es erfordert unglaubliche Kraft – und diese konnte ich nicht immer aufbringen. Dir zu begegnen, dich zu lieben – das war wie eine Naturgewalt, die über mich hereinbrach und der ich nicht entrinnen konnte. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich dir meine Liebe eigentlich beweisen musste, indem ich mich von dir fernhielt, indem ich dich nicht in mein Leben und all das, was es mit sich bringt, hineinzog, indem ich dich verschonte – vor mir verschonte. Aber ich konnte es nicht. Ich war nicht stark genug … ich habe erst von dir lassen können … als es zu spät war, viel zu spät.«
Zu spät … , echote es eine Weile in meinem Kopf, zu spät …
Dann schüttelte ich entschieden den Kopf.
»Wirklich zu spät?«, fragte ich skeptisch.
»Sophie, ich habe dir so viel Leid zugefügt!«, presste er mühsam hervor.
Das stimmte. Nichts konnte mich vergessen lassen, wie sehr ich damals gelitten hatte, in wie viele Scherben mein Leben zerbrochen war. In dunklen Stunden hatte ich mir manchmal gewünscht, unsere Wege hätten sich nie gekreuzt. Und dennoch: Dass ich Aurora empfangen und geboren hatte, das war, das durfte doch kein Scheitern oder Versagen sein!
»Hör auf!«, rief ich mit rauer Stimme. »Aurora ist nicht Folge eines … Fehlers! Sie ist auch keine Kreatur, kein Missgriff der Natur, wie du dich selbst beschreibst. Denk, was du willst, aber ich glaube das nicht. Sie ist mein Kind! Vor allem ist sie mein Kind! Vielleicht ist sie auch eine von euch … Nephilim, und … «
»Nicht zwangsläufig«, unterbrach er mich.
Ich verstummte, blickte ihn fragend an. »Nicht zwangsläufig?«, wiederholte ich nach einer Weile und schwankte
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