Der Kuss des Morgenlichts
er mir. »Sie ist nur in manchem wie ich – und in vielem jedoch anders. Sie kann wie ich Cello spielen und beherrscht viele Sprachen. Doch Cara erzählte, dass sie einen wilden Hund besänftigt hat. Das wiederum hat sie nicht von mir, sondern von meinem Vater – einem wahren Meister der Tiersprachen. Und Aurora hat auch ein Vermögen, das nur wenige besitzen – weder Caspar noch ich, Cara vielleicht ein klein wenig, aber nicht in dieser Ausprägung. Hier schlägt meine Großmutter durch, ihre Urgroßmutter: Sie hatte telepathische Fähigkeiten und kann Gedanken lesen.«
Der Hundebesitzer. Seine Angst, dass ich ihn anzeigen könnte, weil er seinen Hund nicht unter Kontrolle hatte, und dass er ihn würde einschläfern lassen müssen. Aurora hatte gewusst, was in seinem Kopf vorging …
Hatte sie auch meine Gedanken lesen können? Hatte sie in den letzten Wochen meine Scheu erkannt – die Scheu vor ihr?
»Und ist sie auch … stark wie du?«
»Noch nicht. Nicht jede Fähigkeit wird von den Eltern auf ihre Kinder vererbt. Und nicht jede Fähigkeit tritt sofort zutage – manche muss erst mühsam erlernt werden. Wahrscheinlich könnte sie mein Schwert halten – doch ich glaube nicht, dass sie damit bereits richtig umzugehen wüsste.«
»Aber wenn sie dein Kind ist«, rief ich, »dann gehört sie doch zu den Guten, zu den Wächtern! Dann ist sie für Caspar doch ein Feind! Als er hierherkam, machte er aber nicht den Eindruck, als würde er sie vernichten wollen. Es schien ihm eher Spaß zu machen, Macht über sie auszuüben.«
Nathan nickte wieder. »In dieser sensiblen Phase zwischen sieben und vierzehn Jahren ist die Trennlinie zwischen unseren Geschlechtern noch nicht endgültig gezogen. Je nachdem, von wem ein Kind ausgebildet wird – ob von Awwim oder Wächtern – wird es sich der einen oder anderen Seite zuwenden. Wenn Aurora ausschließlich unter Caspars Einfluss stünde, könnte er sie mühelos zu einer von ihnen machen. Später ist das kaum mehr möglich. Es gibt einzelne Fälle, in denen Nephilim die Seiten wechseln, doch dafür bedarf es sehr viel Stärke, noch mehr Stärke, als sich unseren Instinkten zu widersetzen. Hast du dich einmal mit der Vorstellung von Engeln beschäftigt? Die Kirche sagt, dass sie entweder gut oder böse sind, aber dass es nichts dazwischen gibt. Es gibt nur Schwarz oder Weiß, keine Grautöne. Ähnlich verhält es sich bei den Wächtern und Schlangensöhnen.«
»Aber Engel existieren doch nicht – oder etwa doch?«
»Vieles von dem, was man über sie sagt, trifft auf uns zu. Die Geschichten über Engel gehören zu den vielen Mythen, in denen die Ahnung durchschimmert, dass es neben den Menschen noch andere Wesen gibt. Es gibt die guten Engel, die die Menschen beschützen – und es gibt die gefallenen Engel, die sie ins Verderben stürzen. Dieser Glaube sagt viel über uns aus. Und auch andere Legenden spiegeln geheimes Wissen wider, Geschichten über Vampire, Feen, Hexen, Riesen, Werwölfe und dergleichen. Das alles existiert nicht, aber im Kern wird doch eine alte Wahrheit damit verkündet. Es sind Konstrukte gewöhnlicher Menschen, die den Nephilim in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen begegnet sind und sich ihr Verhalten so zu erklären versuchten. Wobei es selten vorkommt, dass Menschen uns beim Kampf beobachten. Wenn wir uns unter ihnen bewegen, verhalten wir uns unauffällig. Es gibt kaum Eigenheiten, an denen man uns erkennen kann.«
Ich versuchte mich an die Zeit in Salzburg zu erinnern, in der wir uns näher kennengelernt hatten und mich oft etwas an ihm verwirrt hatte. »Du hast fast nie etwas gegessen und getrunken«, stellte ich fest.
»Ja«, er konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen, und kurz schwand all das Düstere, Traurige aus seiner Miene. Wahrscheinlich dachte er daran, wie ich ihm unterstellt hatte, er würde sich den Kuchen aus Eitelkeit verkneifen. Wie unangenehm mir damals diese vorlauten Worte gewesen waren! Doch er hatte nur gelächelt, erstmals unbeschwert, und wenig später hatten sich unsere Hände zufällig berührt …
»Die Wächter müssen zwar dann und wann Nahrung zu sich nehmen, haben aber keinerlei Lust zu essen«, sagte Nathan, »wohingegen die Awwim extrem gefräßig sind und Menschen nicht nur wegen ihrer Fähigkeiten, sondern manchmal auch aus purer Fleischesgier verzehren.« Sein Gesicht spiegelte den Ekel, der auch in mir aufstieg. »Was wir gemein haben«, fuhr er schnell fort, »ist die Widerstandsfähigkeit.
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