Der Kuss des Morgenlichts
erfasst. Mir ging die Frage durch den Kopf, ob sie auch wusste, dass er ihr Vater war, und was sie davon hielt, doch es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Was Caspar von Kranichstein jedoch in diesen Kampf treibt«, fuhr Nathan eben fort, »ist vor allem sein Verlangen nach Rache.«
Ich zuckte zusammen, fuhr herum. Ein Geräusch hatte mich zusammenschrecken lassen. Es klang fremd in meinen Ohren – eher wie ein Rascheln als ein Zischen, eher wie ein Stampfen als ein Laufen. Doch draußen im Garten war alles ruhig … zu ruhig. Ich machte mich von Aurora los, trat näher an die Fenster, blickte vorsichtig nach rechts und links. Die Pergola mit ihrem Gerümpel lag im Schatten. Ein geeigneter Ort für einen Angreifer, um sich zu verstecken?
Ich fühlte mich beobachtet und ausgeliefert.
»Rache, wofür?«, fragte ich.
Cara trat neben mich. Ihr Gesicht schien wieder ruhig, doch ich sah, dass jede Faser ihres Körpers angespannt war, als auch sie ihren Blick über den Garten schweifen ließ: »Es ist viele Jahre, Jahrzehnte, nein eigentlich … Jahrhunderte her«, sie zögerte, tat sich sichtlich schwer, mir, einem Menschen, so etwas anzuvertrauen. »Caspar hatte damals eine Gefährtin«, fuhr sie fort. »Sie hieß Serafina, war eine Menschenfrau und zugleich eine Auserwählte. Genau wie du. Oder nein, eigentlich ganz anders als du. Denn sie war durch und durch böse. Sie war eine sehr schöne Frau, sehr intelligent und begabt. Klavierspielen konnte sie nicht, aber sie hatte eine Stimme, die die Menschen verzauberte und bannte … verführerisch wie die einer Sirene … und eben genau darum ging es: Sie wollte mit dieser Stimme die Menschen nicht begeistern, sondern ihr einziger Wunsch war es, stets im Mittelpunkt zu stehen und ihren Willen zu bekommen. Serafina war eine Meisterin der Manipulation, der Bestechung, der Versuchung, sie war selbstsüchtig und eitel, mitleidlos und kalt. Alles Eigenschaften, die Caspar nicht abstießen – im Gegenteil. Er war ihr ganz und gar verfallen, und sie witterte die Macht, die sie als seine Gefährtin erringen könnte. Wer er war, erschreckte sie nicht, sondern machte ihn überhaupt erst reizvoll für sie. Sie gab sich ihm hin, empfing ein Kind von ihm, und Caspar setzte von Anfang an die Hoffnung daran, dass dieses Kind – aus seinem und Serafinas Blut – ein noch mächtigerer und stärkerer Nephil sein würde als er selbst. Einer, der Nathan besiegen konnte – und die vielen anderen, von denen er sich bedroht fühlte.« Cara machte eine Pause, schluckte. »Das … das mussten wir verhindern.«
Sie fügte nichts hinzu, aber das war auch nicht notwendig. Mir lief ein Schauer über den Rücken – nicht wegen eines ungewohnten Geräuschs, sondern weil ich ahnte, wie die Geschichte endete.
Sie hatten die Frau getötet. Serafina. Und auch das Kind. Caspar von Kranichsteins Kind. Und dafür wollte er jetzt Aurora.
Cara hatte nicht erwähnt, von welchem Geschlecht das Kind gewesen wäre, aber plötzlich entstand vor meinem inneren Auge das Bild eines Jungen mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren, mit weißer Haut und dürren, sehnigen Gliedern, er glich Caspar, war aber viel kleiner und zarter, und mit einer Stimme, die nicht unangenehm zischte, sondern glockenhell tönte.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte das Bild zu vertreiben und sah Nathan an, in der Hoffnung, dass sich doch alles anders verhielt, als ich befürchtete. Doch eine ähnliche Verzweiflung wie vorhin, als er von seinem Mord an Andrej Lasarew berichtet hatte, verdunkelte sein Gesicht. Schließlich machte sie grimmiger Entschlossenheit Platz.
»Ich habe nie zuvor ein … Nephilim-Kind getötet«, murmelte er. »Aber damals war es unvermeidbar … nicht nur zu meinem Schutz … sondern zum Wohl aller. Es gelang nur mit Caras Hilfe. Ohne sie hätten wir Caspar nie überwältigen können … Und jetzt … Caspar würde Aurora nie töten, dazu sind ihre Talente zu kostbar, aber er will sie mir wegnehmen, mir den gleichen Schmerz zufügen wie ich ihm einst. Und er will sein Kind durch meines ersetzen … «
Ich erschauderte noch mehr. Mein Bild von diesem Jungen schien immer schärfer, immer deutlicher zu werden. Vorhin hatte ich sämtliche Abscheu vor dem, was Nathan war und machte, bezwingen können. Aber jetzt? Wie hatte er das nur tun können?
Doch je länger der Junge mich in meiner Vorstellung anstarrte, desto leerer wurden seine Augen, seine Züge immer spitzer und kantiger; er öffnete den Mund,
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