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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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überwältigte mich das Verlangen, sie wieder und wieder zu erleben, Nathan nicht loszulassen, mich ihm hinzugeben, den Gedanken daran, wer er war, ebenso zu verdrängen wie die Ahnung, dass dafür keine Zeit blieb.
    Nicht lange konnte ich mich meinen Gefühlen hingeben; viel zu schnell war es vorbei. Wir verharrten noch in der Umarmung, als plötzlich Schritte zu hören waren. Kaum hatten wir uns voneinander gelöst, wurde die Tür aufgerissen.
    »Kommt schnell!« Cara stand im Türrahmen, ihre ansonsten sehr beherrschte Miene war aufgelöst. »Kommt schnell!«
    Nathans Züge, eben noch weich und voller Hingabe, verhärteten sich, spiegelten ebenso viel Fatalismus wieder wie grimmige Entschlossenheit.
    »Ist es so weit?«, fragte er.
    »Ja«, sagte Cara düster, »Sie sind hier.«

    Ich stürzte hinunter, nicht sicher, was mich erwarten würde. Noch nie hatte so viel Furcht in Caras sonst stets ruhiger Stimme gelegen. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, doch als ich das Wohnzimmer erreichte, mich aufgeregt im Kreis drehte, schien alles unverändert. Sonnenstrahlen schienen schräg durch das Fenster, Staubkörnchen tanzten in ihrem Licht. Im Garten funkelten Tautropfen. Ungewöhnlich war nur diese Totenstille – kein Zirpen der Grillen, kein Zwitschern der Vögel.
    »Was … was ist passiert?«
    Aurora war auf mich zugekommen und hatte sich an mich geschmiegt. Ich strich ihr über den Kopf, und in diesem Augenblick spielte es keine Rolle, was ich eben über sie, ihren Vater, ihr Erbe erfahren hatte … in diesem Augenblick war sie einfach nur mein kleines Mädchen, das ich beschützen musste – vor wem und vor was auch immer.
    »Sie sind überall«, sagte Cara düster.
    »Wer?«, rief ich.
    »Seine Gehilfen«, antwortete Cara, und ich fühlte, wie Aurora leicht zitterte. »Er will, dass sie Aurora holen … «
    Ich wusste, wen sie meinte, aber es gab so vieles, was ich immer noch nicht begriff.
    »Gehilfen?«, rief ich. »Was heißt das?«
    »Nenne sie Gefährten, nenne sie Diener, nenne sie Soldaten«, sagte Cara. »Es sind Nephilim, die Caspar für diesen Kampf ausgebildet hat … und die in den letzten Wochen Kräfte gesammelt haben.«
    Cara hatte ihre Stimme wieder unter Kontrolle, wohingegen ich nun ähnlich zitterte wie Aurora.
    Kräfte gesammelt …
    So viele Menschen hatten ihr Leben für diese … Schar lassen müssen.
    »Ich verstehe es immer noch nicht!«, rief ich verzweifelt. »Tut Caspar das alles nur, um Aurora in seine Gewalt zu bekommen? Sie ist doch bestimmt nicht das einzige Mädchen, in dem eine Nephila schlummert! Würde er für jedes dieser Kinder eine eigene Armee aufstellen?«
    Ich dachte an die beiden vermeintlichen Assistenten, die ihn bei seinem ersten Besuch begleitet hatten. Dass es ein Mann und eine Frau waren – daran konnte ich mich erinnern, jedoch nicht an ihre Statur, ihre Züge. Etwas unhöflich war mir erschienen, dass er sie mir nicht vorgestellt hatte, doch nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass von ihnen eine Gefahr ausging, dass sie keine gewöhnlichen Menschen waren, sondern dass Caspar mir mit ihrer Hilfe mein Kind entreißen wollte, um es zu einem der Awwim zu machen.
    Ich fuhr zu Nathan herum. »Du hast gesagt, dass ihr seit jeher Feinde seid … aber eben auch ebenbürtig. Warum schreckt ihn das nicht ab? Ich verstehe, dass er versuchte, Macht über Aurora zu erlangen, solange du nicht hier warst, aber warum zieht er sich jetzt nicht zurück? Er weiß doch nun, dass ihr hier seid und dass ihr Aurora vor ihm beschützen würdet – du und Cara!«
    Ich sah, dass Cara und Nathan Blicke tauschten, und nicht zum ersten Mal fühlte ich mich ausgeschlossen. Doch nun war keine Zeit mehr, Geheimnisse zu respektieren. »Was verschweigt ihr mir noch?«, forderte ich energisch. »Ihr müsst mich nicht länger schonen. Ich weiß bereits so viel – jetzt will ich auch alles wissen, wirklich alles!«
    Nathan seufzte. »Es stimmt«, sagte er leise, »die übliche Rivalität zwischen uns wäre für Caspar kein ausreichender Grund, so gierig auf Aurora zu sein. Ihre telepathischen Fähigkeiten allein würden ihn ebenso wenig in einen Kampf treiben, den er auch verlieren kann. Dazu ist er zu vorsichtig, zu umsichtig.« Mein Blick glitt zu Aurora, prüfte, wie sie diese Worte aufnahm. Doch anders als ich wirkte sie nicht verwirrt, sondern gelassen, als wäre ihr alles, was er sagte, längst vertraut, als hätte sie das, was Nathan mir mühsam erklären musste, instinktiv

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