Der Kuss des Satyrs
Schließen einer Blüte.«
Jane zog die Augenbrauen hoch. »Die Blumenuhr? Viele der Pflanzen, die er dafür vorschlägt, sind doch Wildblumen, oder? Findest du die alle hier in Tivoli?«
Emma schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Aber ich habe mit einer Untersuchung angefangen, um die entsprechenden Zeiten von italienischen Pflanzen zu ermitteln. Wenn ich dann welche von den zwölfen, die Linné vorschlägt, hier nicht finde, kann ich sie durch italienische Pflanzen mit denselben Blühzeiten ersetzen.«
»Brillant!«, lobte Jane. Beide Schwestern waren sehr an Botanik interessiert. Während Janes Interesse sie dazu brachte, die Pflanzen in Händen zu halten und mit ihnen zu arbeiten, war Emmas Interesse eher forschender Natur.
»Lies mir doch bitte vor, während ich das hier schnell fertigmache«, schlug Jane vor. »Ich habe vergessen, welche Pflanzen für die Uhr gebraucht werden.«
Emma ließ sich auf einer schmiedeeisernen Bank nieder und fing an, laut vorzulesen.
Jane kniete sich so hin, dass ihre Arbeit nicht leicht beobachtet werden konnte. Es gab Geheimnisse, in die sie niemanden einweihen durfte, nicht einmal Emma.
Unter ihrer Zuwendung wurde die Erde reichhaltiger. Ranken sprossen und wickelten sich liebevoll um ihre Finger. Unkraut verkümmerte. Fingerhut und Orangenblüten erwachten zu neuem Leben. Vertrocknete Löwenmäulchen richteten sich wieder auf und erstrahlten wie durch Magie in intensiven Farben.
Wenn sie doch auch ihre Schwester so verzaubern könnte.
Denn sie machte sich große Sorgen um Emma. Darüber, was aus ihr wohl werden würde – ein Wesen, wie sie selbst eines war, das über eine unnatürliche Absonderlichkeit verfügte, die vor aller Welt verborgen werden musste.
Es waren nur noch wenige Monate bis zu Emmas dreizehntem Geburtstag. Für Jane hatte der Wandel vom Mädchen zur Frau in diesem Alter bedeutet, dass sie von nun an Monatsbinden brauchte und Korsetts tragen musste. Aber zur selben Zeit, als die Gesellschaft ihrem Körper vorschrieb, die Form einer Sanduhr anzunehmen, war eine weitere Wandlung in ihrem Körper vor sich gegangen, die genauso wenig aufzuhalten gewesen war.
Obgleich Emma nichts von Janes bizarren Fähigkeiten wusste, so hatte es ihre Mutter sehr wohlgetan. Und dieses Wissen hatte alles zwischen ihnen verändert. Ihre Mutter hatte ihr ihre Liebe entzogen, hatte aufgehört, sie zu berühren, und sie mit neuer Wachsamkeit beobachtet. Jane hatte bald gelernt, das Wesentliche geheim zu halten.
Heimlichkeiten. Das Wort ließ sie an den Herrn mit den intensivblauen Augen denken, der in ihr Zelt bei der Villa d’Este gekommen war. Sie drückte den Rücken durch und reckte sich.
»Jane!«
Beim Ruf ihrer Tante wechselten die Schwestern einen gehetzten Blick. Emma sprang auf und zerrte an Janes Arm. »Komm! Verstecken wir uns!«
Jane zwang sich zu einem Lächeln. »Bring dich in Sicherheit. Lies irgendwo anders zu Ende. Sie sucht bloß mich.«
»Jane!«, rief die schrille Stimme wieder. Sie war näher gekommen.
Emma verzog das Gesicht in gespieltem Schrecken, griff sich ihr Buch und machte sich eilends davon. Jane konnte die Gefühle ihrer Schwester vollkommen nachvollziehen. Widerstrebend stand sie auf und band ihre Schürze ab.
Ihre Tante schüttelte entsetzt den Kopf, als sie sie erblickte. »Dein Interesse für diesen schrecklichen Garten übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Jetzt sieh dich doch nur an. Völlig verdreckt!«
Izabel strich Janes Haar zurück, und Jane ließ es zu. Sie versuchte vorzugeben, dass sie ihre ungestüme Hilfe als familiäre Freundlichkeit empfand.
»Eine schreckliche Farbe. Aber daran kann man wohl nichts ändern«, sagte Izabel.
Jane ignorierte die Beleidigung. Ihr blassblondes Haar, das spitze Kinn und der helle englische Teint waren das Vermächtnis ihrer Mutter. Während Emma das schwarzbraune Haar und die dunklen Augen ihres Vaters geerbt hatte, sah Jane ihm überhaupt nicht ähnlich.
Izabel tauchte ihr Taschentuch in den kleinen Gartenbrunnen. Als sie zurückkehrte, wischte sie Jane mit faltigen, beringten Fingern ein wenig Schmutz von der Wange. Jane vermied es seit Jahren, von jemandem berührt zu werden. Sie ließ es nur zu, wenn es unumgänglich war oder wenn sie gegen Bezahlung in Händen las.
»Wen kümmert es schon, wie ich aussehe?«, sagte sie und wich Izabels Hand aus. »Ich habe nicht vor auszugehen.«
Izabel warf das schmutzige Tuch auf die Steinumrandung des Brunnens und schaute grimmig.
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