Der Kuss des Satyrs
letzte Woche im Garten der Villa d’Este durchschaut? Und wenn schon … warum hielt er um ihre Hand an, wenn er gerade einmal zwanzig Minuten auf einem Jahrmarkt mit ihr gesprochen hatte?
»War er hier?«, fragte sie.
»Er hat deinem Vater heute Morgen seine Aufwartung gemacht.«
Ihr Kopf schoss zu ihrem Vater herum.
»Wenigstens ist er adlig«, murmelte dieser in seinen Teller.
»Ja, der Name Satyr steht schon lange im
Libro d’Oro della Nobilità Italiana
«, fügte Izabel hinzu. »Du könntest keinen besseren Ehemann bekommen.«
Dass die Familie des Mannes im italienischen Adelsregister geführt war, machte die ganze Angelegenheit nur noch absurder. Jane bediente sich von der Suppe und bemühte sich um einen sachlichen Ton. »Aber ich bin noch nicht so weit zu heiraten.«
»Dann willst du uns also bis ins hohe Alter zur Last fallen?«, fragte ihre Tante.
Nein
, wollte Jane schreien. Sie wollte von ihrer Familie akzeptiert werden als diejenige, die sie war. Sie wollte geliebt werden, aber sie machte sich diesbezüglich keine Hoffnungen mehr. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, es nicht länger zu erwarten. Selbst ihre eigene Mutter hatte sie für einen Sonderling gehalten, den man nicht lieben konnte. Ihr Vater hatte sie ignoriert, weil sie kein Junge war. Jetzt wollte sie nur noch Freiheit, Freiheit für sich und Emma.
»Ich habe keine Zuneigung zwischen uns gespürt«, murmelte Jane leise vor sich hin.
Ihre Tante zog die Augenbrauen so fest zusammen, dass sie sich über ihrer Nase trafen. »Ich dachte, du kennst ihn nicht?«
Eine Vision von dem Mann aus dem Zelt – nackt, beim Liebesakt mit einer unbekannten Frau – kroch vor ihr inneres Auge und wurde sofort verbannt.
»Nur das, was man sich so erzählt. Er ist ein Schwerenöter, nicht wahr?«, erlaubte sich Jane zu sagen.
Izabel zuckte die Achseln. »Und wenn schon. Als seine Frau bist du in der besten Position, ihn dahingehend zu beeinflussen, dass er es bleibenlässt.«
»Er kommt mir nicht so vor wie ein Mann, der sich leicht beeinflussen lässt.«
»Wieder zeigt sich, dass du gelogen haben musst, als du behauptet hast, ihn nicht zu kennen«, sagte ihre Tante.
Ihr Vater sah sie missbilligend an, als sei er gerade aus einer Trance erwacht. »Gibt es irgendeinen Grund, warum Satyr so sehr auf diese Heirat drängt?«
»Drängt?«, wiederholte Jane.
»Er bittet um eine Heirat innerhalb von wenigen Tagen«, erklärte ihre Tante.
»Hast du ihn heimlich getroffen?«, bellte ihr Vater. Sein Blick fiel auf Janes schlanke Taille, und seine Finger umklammerten sein Messer, auf dessen Spitze ein Filetstückchen steckte.
Jane sprang auf und warf ihre Serviette auf den Tisch. »Nein! Ich kann seinen Antrag einfach nicht annehmen, und ganz sicher nicht so schnell!«
Ihre Tante richtete sich langsam auf. »Du wirst seinen Antrag ganz sicher annehmen, oder die Sache geht übel für dich aus.«
»Izzy, nicht«, mischte sich ihr Vater in einem etwas verspäteten Versuch ein, die Gemüter zu beruhigen. Wie ein Vogel mit den Flügeln schlug er mit den Händen auf und ab, um ihnen anzuzeigen, sie sollten sich wieder setzen. Izabel sank auf ihren Stuhl, Jane ebenso.
»Was hast du gegen Satyr einzuwenden?«, fragte er Jane.
»Ich weiß nichts über ihn!« Jane schrie es fast. »Was hat er für Gewohnheiten, worüber unterhält er sich, warum will er mich heiraten? Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
Ihre Tante schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass das Besteck klirrte. »Dumme Gans! Was kümmert es dich? Als seine Frau wirst du zu einer der reichsten Familien Italiens gehören.« Sie nahm einen anderen Tonfall an. »Aber ich werde dich nicht dazu zwingen. Wenn du es vorziehst, Signore Nesta zum Mann zu nehmen, dann soll er es sein.«
»N-Nesta?« Schlagartig sah Jane Nicholas Satyrs Antrag mit anderen Augen.
»Bist du eine Spottdrossel? Dir kann doch nicht entgangen sein, dass er dich will«, sagte ihre Tante. »Sehnst du dich denn nicht nach einem eigenen Heim? Einer eigenen Familie?«
Jane erinnerte sich daran, dass Signore Satyr zwei Brüder hatte, die ganz in seiner Nähe wohnten. Waren sie verheiratet? Würde der Satyr-Klan sie und Emma willkommen heißen und sie liebevoll aufnehmen – anders als in ihrer derzeitigen Situation? Er war reich, hatte ihre Tante gesagt. Emma würde schöne Kleider bekommen, eine Ausbildung. Sicherheit.
Ihr Herz zog sich zusammen. Sie würde alles tun, um ihrer Schwester Leid zu ersparen. Alles.
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