Der Kuss des Verfemten
Düften.
»Dazu ist noch genug Zeit«, drängte Mathilda wieder. Sie konnte ja verstehen, dass Isabella nach dem gewaltigen Schock, den sie erlitten hatte, lieber allein war. Doch die gesellschaftlichen Verpflichtungen brachen mit aller Gewalt über sie herein.
Seufzend wandte sich Isabella ab und schritt, begleitet von Mathilda, hinüber in den Audienzsaal ihres Vaters. Dieser Raum war wesentlich kleiner als der Prunksaal, aber nicht minder prächtig mit Wandteppichen, bunten Fahnen, gestickten Wappen und Wandgemälden ausgestattet. Auf einer kleinen, drei Stufen hohen und mit Teppichen belegten Empore stand ein hoher, gepolsterter Stuhl, einem Thron gleich, auf dem der Herzog saß. Isabella verneigte sich in Demut vor ihrem Vater und senkte den Blick. Sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen, um sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte den kraftstrotzenden, Ehrfurcht gebietenden Mann mit dem langen aschblonden Bart erwartet, der die ganzen Jahre in ihrer Erinnerung gelebt hatte. Sie erwartete, in seine kräftigen Arme genommen und an seine mächtige Brust gedrückt zu werden.
Der alte Mann, der da vorn auf dem Thron saß und seine zitternde, gichtverkrüppelte Hand nach ihr ausstreckte, war nur ein Schatten seiner selbst. Ein einfältiges, kindliches Lächeln lag auf seinem Gesicht, und sein dünner, grauer Bart wirkte eher lächerlich als imposant.
»Setz dich an meine Seite, mein Kind«, sagte er und wies auf einen Schemel an seiner Seite. Der zweite hohe Lehnstuhl blieb frei. Hier hatte vor fünfzehn Jahren noch Isolde, die Gemahlin des Herzogs und Isabellas Mutter, gesessen. Sie war noch vor Isabellas erstem Geburtstag gestorben. Seitdem war dieser Stuhl verwaist. Er muss sie geliebt haben, dass er nie wieder eine rechtmäßige Gattin an seine Seite genommen hat, fuhr es Isabella durch den Sinn, und ein ziehender Schmerz bemächtigte sich ihrer. Sie nahm Platz zu Füßen ihres Vaters und zog sich den zarten Schleier vors Gesicht. In Anbetracht der unzähligen Gäste und der vielen Ritter, die um ihre Hand kämpfen würden, hielt sie es für schicklicher, sich mit dem Schleier der Unerreichbarkeit zu umgeben. Umso inbrünstiger würde das Werben der Ritter um sie sein!
Dabei hatte sie, als sie die Nacht nach dem Überfall in der Herberge verbracht hatten, ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, wieder ins Kloster zurückzukehren. Am Morgen hatte sich der Sohn des Wirtes auf den Weg zur herzoglichen Burg gemacht, um Hilfe zu holen. Die Hilfe kam im Laufe des nächsten Tages mit einem riesigen Aufgebot an Soldaten und mehreren Rittern, angeführt von Gundram von Oxensal. Ein Teil der Soldaten schwärmte aus und durchkämmte die gesamte Umgebung, jedoch ohne Erfolg. Die Straßenräuber hatten sich in Nebel aufgelöst.
Ritter Gundram führte einen herrlichen weißen Zelter mit sich, den er Isabella übergab.
»Es ist das Geburtstagsgeschenk Eures Vaters, der Euch schon sehnsüchtig erwartet!«
Im Angesicht dieser wackeren Männer verflüchtigte sich ihre Verzweiflung und wich einer erwartungsfrohen Stimmung. Überwältigt betrachtete sie das wunderschöne Reitpferd mit dem prächtigen Damensattel und dem bestickten Zaumzeug. Die Wirtsleute hätten sich am liebsten vor Isabella auf den Boden geworfen, so beeindruckt waren sie von der Tatsache, dass sie die wahrhaftige Tochter des Herzogs in ihrem bescheidenen Heim beherbergen durften. Isabella belohnte sie großzügig für die Hilfe, die sie ihr, Mathilda und dem verletzten Soldaten gewährt hatten.
Bevor sie die Herberge verließen, beugte Isabella sich von ihrem Pferd herunter und drückte dem schwarzlockigen Michael einen Beutel Geldstücke in die Hand.
»Als Belohnung dafür, dass du Hilfe von der Burg meines Vaters geholt hast«, sagte sie und fügte leise hinzu: »Und für den unauslöschlichen Eindruck, den du in mir hinterlassen hast!«
»Ich verstehe nicht ganz, Hoheit«, stotterte Michael.
Isabella beugte sich noch tiefer. »Verrate mir, wie man es schafft, im Beischlaf so glücklich zu sein, dass man die Welt um sich herum vergisst und nicht einmal die Hölle fürchtet!« Sie lachte übermütig über Michaels tiefrotes Gesicht und trieb ihr Pferd an.
Im Gefolge von Ritter Gundram und Ritter Wulfhard gelangten sie unbehelligt auf die prächtig geschmückte Burg ihres Vaters, zu deren Füßen sich bereits ein bunter Haufen von Gauklern, Händlern, Musikanten, Taschendieben und Zaungästen eingefunden hatte, um Isabellas Ankunft,
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