Der Kuss des Werwolfs - 1
keine Frau, keine Kinder, keinen Erben. Die Burg verfällt seitdem.«
»Hat niemand versucht, sie zu kaufen? Irgendwem muss sie doch gehört haben nach dem Verschwinden des letzten Earls.« Nola dachte an neureiche Londoner, die sich gern im fernen Schottland mit Landsitzen schmückten.
»Ich weiß nicht. Die Leute sagen, es gehe dort nicht mit rechten Dingen zu.« Ms. Burden senkte die Stimme. »Nachts sind Fackeln im Schloss zu sehen, obwohl dort niemand wohnt, und man hört die Stimme einer Frau übers Moor heulen. Es soll die heimliche Geliebte des Earls sein, die in ihrem unbekannten Grab keine Ruhe finden kann.«
Nola kam es vor, als sei es im Zimmer dunkler geworden und als rüttele der Wind an den Fenstern, während in ihrer Kompottschale das Eis schmolz.
»Die Leute behaupten das«, fügte Ms. Burden beruhigend hinzu. »Ich selbst habe nie etwas gesehen oder gehört. Es wird der Wind sein, der über das Moor heult und sich anhört wie die Schreie einer Frau.«
»Oder es ist ein Werwolf«, unterbrach Nola die alte Dame. Eine einsame Ruine wie Shavick Castle wäre der richtige Ort für so ein Untier.
»In Schottland gibt es längst keine Wölfe mehr, Kindchen. Davor brauchen Sie keine Furcht zu haben. Und Werwölfe sind Ammenmärchen. Ich glaube jedenfalls nicht an sie, genauso wenig wie an unheimliche Fackeln nachts auf Shavick Castle.«
Später saß Nola im Bett, den Rücken an das Kopfteil gelehnt. Sie hatte das Gefühl, nicht in ihr Zimmer gegangen, sondern gerollt zu sein. Bestimmt hatte sie mindestens fünf Kilo zugenommen, aber lange nicht mehr so gut gegessen. Auf ihren Oberschenkeln lag ein Reiseführer über Schottland, in dem es nur eine kurze Notiz über Shavick Castle gab: Die Ruine sei seit zweihundert Jahren unbewohnt, und ein Ausflug lohne nicht. Kein Bild, kein Hinweis auf das Schicksal des Grafengeschlechts. Was erwartete sie morgen?
Es konnte nicht stimmen, dass eine Ruine niemandem gehörte, selbst wenn der letzte Earl keinen Erben gehabt hatte. Jeder Fußbreit Land auf den Britischen Inseln gehörte jemandem, und wenn es die Queen oder der National Trust waren.
Es war halb elf Uhr nachts und dunkel. Vielleicht ging gerade in diesem Moment jemand mit einer Fackel in der Burg herum? Eine Gänsehaut überlief Nola bei dem Gedanken, mitten in der Nacht allein, nur mit einer Fackel als Lichtquelle, in der Burgruine zu sein. Es wäre wie im 19. Jahrhundert, als der letzte Earl verschwunden war.
Sie sah von dem Reiseführer auf und zuckte zusammen: Rhodry stand in der Tür. Sehr bleich, das Haar im Nacken zusammengebunden und wie immer in einem schwarzen Anzug. Er sah sie an.
Nola wollte ihm zulächeln, aber ihr Gesicht war wie gelähmt. Seine Miene war ebenfalls unbewegt, seine Augen sahen traurig aus. Wortlos drehte er sich um und verschwand, und das Letzte, was sie von ihm in Erinnerung behielt, waren diese traurigen Augen. Hatte sie ihn enttäuscht, weil sie sich mit den Tworeks eingelassen hatte, oder weil sie nicht schnell genug gekommen war?
»Warte auf mich, Rhodry!«, sagte sie leise. »Ich komme morgen nach Shavick Castle.« Sie betrachtete die Kratzer an ihrem Oberarm, zog den Ausschnitt des Nachthemds herunter, inspizierte den auf ihrer Brust. Bald wären sie verheilt, dann bliebe nichts von ihm zurück. Fast wünschte Nola, einer der Kratzer würde eine Narbe bilden, damit sie eine bleibende Erinnerung an ihr Abenteuer mit ihrem Traummann hatte.
Mit der Zeit wurde der Rucksack schwer, obwohl nur eine Flasche Wasser, eine Regenjacke, eine Taschenlampe und eine Packung Kekse darin waren. Die Karte hielt Nola in der Hand. Ms. Burden hatte sie ihr gegeben, bevor Nola heute Morgen aufgebrochen war;
es war eine Wanderkarte, auf der Shavick Castle neben Lake Shavick eingezeichnet war. Dorthin führte nur ein Trampelpfad. Den Fiat hatte sie, wie von Ms. Burden geraten, beim Hof der Montereys abgestellt. Kein Leben hatte sich geregt, nicht einmal ein Hund hatte gebellt oder ein Huhn auf dem Hof gepickt. Nola hatte einen Augenblick durchs Tor geschaut, dann war sie losgewandert.
Auf der Karte hatte die Strecke nicht weit ausgesehen, mittlerweile kam es ihr allerdings vor, als seien mehrere Stunden vergangen. Tatsächlich waren es etwa zwei, doch von Shavick Castle war noch immer nichts zu sehen.
Der linke Wanderschuh scheuerte an Nolas Ferse. Sie hätte besser nicht in fremden Schuhen loslaufen sollen. Noch konnte sie die Zähne zusammenbeißen, aber der Schmerz quälte sie.
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