Der Kuss des Werwolfs - 1
Dörfer, die kaum einhundert Einwohner zählen mochten, dafür aber mindestens die zehnfache Menge Schafe beherbergten. Alte Männer und Frauen saßen vor den Häusern und genossen die Sonne, Hunde dösten zu ihren Füßen. Es war alles so ruhig und friedlich, dass sie sich fragte, ob sie sich noch auf dem gleichen Planeten befand, auf dem auch London lag.
Der kleine Fiat rollte in ein Tal hinunter und quälte sich auf der anderen Seite den Berg wieder hoch. Oben befand sich ein Aussichtspunkt mit einem Parkplatz. Dort brachte Nola den Wagen zum Stehen. Sie stieg aus und sah sich um. Überall Hügel, Täler und Hochmoore, grün und felsig, niedrige Sträucher und dazwischen immer wieder schmutzig-weiße Punkte: Schafe. Sie reckte sich und atmete tief ein. Die Luft roch anders als in Südengland, jede einzelne Komponente trat stärker hervor. Der Geruch nach Sommer, Wind, Heidekraut. Sie streckte die Arme aus, als wollte sie die Hügel vor sich umarmen. Auf der Straße hinter ihr fuhr ein Auto vorbei, doch sie war viel zu versunken in die Landschaft, um sich Gedanken darüber zu machen, was der Fahrer von ihrem seltsamen Gebaren halten mochte. Der Wind spielte mit ihrem Haar. Die Hektik der Großstadt fiel von ihr ab, und sie dachte, wie schön es wäre, auf dem Land zu wohnen, eigenes Gemüse zu ziehen und duftende Kräutertöpfe vor dem Küchenfenster zu haben. Und am ersten Regentag, wenn sich die
Wege in Schlamm verwandelten, würde sie sich Londons Lichter zurückwünschen, die sich auf dem nassen Pflaster spiegelten?!
Nola stieg wieder in den Fiat und zog die Straßenkarte zu Rate. Shavick Castle war nicht eingezeichnet, sie hatte aber ein Kreuz an der Stelle gemacht, wo es liegen musste. Eine Straße führte nicht dorthin, nicht einmal ein Weg war verzeichnet. Sie würde nicht näher rankommen als bis zum Dorf Five o Firth — hoffentlich gab es dort ein Bed & Breakfast!
Was sie auf der Karte für ein Dorf gehalten hatte, war ein einzelner Hof ohne Bed & Breakfast. Sie fuhr zurück in den nächsten Ort und mietete ein Zimmer bei einer Ms. Burden, die ihren jungen Gast viel zu dünn fand und Nola außer einem Zimmer mit Frühstück auch gleich ein Dinner für den Abend anbot. Nola hatte eigentlich im Pub des Dorfs zu Abend essen wollen, war jetzt aber froh, nicht mehr aus dem Haus zu müssen. Die Zugfahrt und die lange Autofahrt hatten sie erschöpft.
Ms. Burden hatte den Tisch gedeckt, als Nola nach einem kurzen Schläfchen herunterkam. Das Dinner begann mit einer Nudelsuppe, gefolgt von einer Lammpastete. Wacker langte Nola zu. Die Pastete war köstlich.
Ms. Burden hatte sich zu ihrem Gast gesetzt, aß selbst jedoch nichts. Ihre Finger strichen nervös über die Tischdecke.
»Schmeckt sehr gut«, bestätigte Nola, und ihr Lob zauberte ein Lächeln auf das Gesicht ihrer Gastgeberin.
»Was hat Sie in diese Gegend verschlagen, Kindchen? Es kommen nicht viele junge Frauen allein her.«
»Ich will Shavick Castle besuchen. Leider konnte ich keine Karte finden, auf der es verzeichnet ist. Können Sie mir den Weg beschreiben?«
Ms. Burden nickte. »Nicht viele kommen aus dem Süden, um Shavick Castle zu sehen. Sie können nicht mit dem Wagen hinfahren, sondern müssen das letzte Stück zu Fuß gehen. Das Auto lassen Sie am besten neben dem Hof der Montereys stehen. Die Straße hört da auf.«
Nola nickte und schob sich eine weitere Gabel Lammpastete in den Mund, obwohl sie bereits zum Platzen satt war.
Ms. Burden beschrieb ihr den Weg, den sie zu Fuß bis zur Burg nehmen musste. »Es war nicht immer so, dass die Straße beim Hof der Montereys aufhörte. Meine Großmutter hat von Zeiten erzählt, als der Earl noch auf der Burg wohnte, damals gab es den Hof der Montereys gar nicht.« »Wann war das?«
»Es ist mehr als fünfzig Jahre her, dass meine Großmutter mir das erzählt hat. Den Earl soll man zuletzt Anfang des 19. Jahrhunderts gesehen haben. Damals ist was Merkwürdiges auf der Burg passiert: Eben war noch Leben dort — und plötzlich nichts mehr, von einer Stunde auf die andere. Es muss eine stürmische Winternacht gewesen sein. Der Earl verschwand und alle anderen mit ihm. Bald darauf kamen die Montereys und bauten den Hof auf.«
»Was wurde aus der Burg?« Nola legte die Gabel hin. Ms. Burden verstand den Wink und räumte ab. Anschließend brachte sie eine Schüssel Eis mit Kompott.
»Was wurde nun aus Shavick Castle?«, wiederholte Nola ihre Frage.
»Oh, ja — es steht leer. Der Earl hatte
Weitere Kostenlose Bücher