Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
durch den Wald, fest entschlossen, seinen Frust durch Bewegung abzubauen, statt seine Brüder in Gedanken in Fetzen zu reißen.
Trevan und Saber sahen sich an. Dann zuckte Trevan die Achseln, griff nach den Lenkzügeln und setzte das Gefährt wieder in Bewegung.
»Sexueller Frust«, wiederholte der kupferhaarige Magier weise.
Saber wusste nicht, ob er grinsen oder seinen Zwilling bemitleiden sollte. Er entschied sich für beides, froh darüber, dass Wolfer nicht mehr in Sicht war. Es war nicht richtig von ihm, sich über seinen Bruder lustig zu machen, aber vom Moment ihrer Ankunft an konnte Saber klar und deutlich sehen, wer die nächste Schicksalsfrau in der Familie sein würde.
Die kleine Alys of Devries. Jetzt eine erwachsene Frau. Eine Frau, die ein Auge auf Wolfer of Nightfall geworfen hatte, genau wie Wolfer auf sie.
Wer hätte das gedacht?
Tief im Dschungel sprang Wolfer über einen umgestürzten Baum hinweg und überquerte eine Lichtung. Dabei erschreckte er drei Rehe aus einer der beiden wilden Herden, die auf Nightfall grasten. Eine hielt sich an der Westseite der länglichen Insel, eine an der Ostseite auf. Sie trafen nur ab und zu an den nördlichen und südlichen Enden zusammen, wenn sie den Pass umgingen, auf dem die Burg zwischen den zwei Bergketten thronte. Eine Schar Plinka-Vögel flatterte vorbei; ihr rot, schwarz und gelb gemustertes Gefieder hob sich leuchtend bunt vom Grün des Waldes ab. Sie schossen blitzschnell in das Geäst der Bäume, als er näher kam.
Seine Fänge schnappten nach einem Blatt, das sein Maul streifte. Er erklomm einen Hügel und stieg dann vorsichtig die steile andere Seite hinunter. Eine der harmlosen Baumschlangen glitt rasch aus seiner Reichweite. Wolfers Krallen machten klickende Geräusche, als er ein Stück der gewundenen, gepflasterten Straße entlangtrottete, und knirschten dann im Laub des Waldbodens. Ein Pipka, das aussah wie eine überdimensionale Maus, flitzte vor ihm über den Weg, aber er war nicht hungrig genug, um es zu jagen, obwohl seine Wolfsinstinkte für einen Augenblick erwachten. Das Knacken der Knochen zwischen seinen Zähnen wäre ein Ventil für seine hilflose Wut gewesen, aber keines, zu dem er greifen wollte.
Natürlich erreichte er den Strand vor seinen Brüdern. Und natürlich war das Schiff noch nicht da. Knurrend trottete Wolfer gen Norden, auf den einzigen steinernen Außenpier zu, der noch in Betrieb war. Eine andere Straße führte zu der Wasserentsalzungsanlage; sie verlief an einem von Steinen gesäumten See vorbei und zu einer auf und ab führenden Straße empor, die die Straßen zum Strand und zur Burg miteinander verband und so eine Schleife bildete.
Der westliche Strand unterschied sich vom östlichen dadurch, dass die Nordseite genug Wasser führte, um es einem Schiff zu ermöglichen, so nahe an der Küste anzulegen, dass die Waren direkt auf ein Dock geladen werden konnten. Das Südende der westlichen Bucht bildete eine seichte Sandfläche, in der bei Eintritt der Ebbe Wassertümpel zurückblieben. Hier hatte es einst eine Werft gegeben – vor langer Zeit war diese vom Dschungel überwucherte Ansammlung steinerner Ruinen eine blühende Hafenstadt gewesen.
Als einfaches Gebäude konnte man das sich vor Wolfer erstreckende, mit kunstvollen, gut erhalten gebliebenen Steinmetzarbeiten verzierte Bauwerk eigentlich nicht bezeichnen, aber Tempel hatte einen zu religiösen Beiklang. Es war ein weitläufiger achteckiger Komplex, an dessen Rand sich acht achteckige Gebäude entlangzogen und in dessen Mitte ein großes Lagerhaus stand. Zu jeder Seite dieser Gebäude erhoben sich acht hohe Säulen.
Die meisten Dinge in Katan traten in zweifacher, vierfacher und vor allem achtfacher Form auf, um die vier Jahreszeitengesichter des katanischen Götterpaares zu symbolisieren. Im Frühling bildeten Kata und Jinga ein leidenschaftliches Liebespaar, im Sommer waren sie die Schutzpatrone der Bevölkerung, im Herbst Vater und Mutter und im Winter die weisen Alten. Der große Magier, der diesen Ort vor langer, langer Zeit geschaffen hatte – einen Ort, der von seltener, konstanter Magie durchtränkt war -, war sich der dauerhaften Macht der Zahl Acht in Katan bewusst gewesen. In anderen Ecken der Welt sah es anders aus, aber hier beherrschte die Acht fast alles.
Als er den Eingang erreichte, nahm Wolfer wieder Menschengestalt an, betrat den von Bäumen gesäumten Komplex und dann das große Gebäude mit dem Kuppeldach. Da für die
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