Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
hinzunehmen, sich weder zur Wehr zu setzen noch Schwächen zu zeigen. Sie nippte an ihrem Saft, nickte noch einmal und räusperte sich dann. »Es fällt mir nur so furchtbar schwer. Ich musste alles ertragen, was mein Onkel mir antat, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen, damit ihm die Quälereien möglichst schnell langweilig wurden und er von mir abließ, um sich ein anderes Opfer zu suchen.«
Bei diesem zögerlichen Geständnis stieg tiefes Mitgefühl in Kelly auf. Sie vergaß immer, dass sich Alys’ Hintergrund und Geschichte vollkommen von ihrer eigenen unterschied. Die Doyles beziehen ihre Stärke aus ihrem Selbstbewusstsein , überlegte sie. Die Devries überleben scheinbar, indem sie still erdulden, was ihnen widerfährt. Hmm …
»Okay, betrachten wir das Ganze einmal von einer anderen Warte aus. Du hast gelernt, Misshandlungen klaglos zu ertragen und dann mit dem weiterzumachen, was du gerade getan hast?«, vergewisserte sie sich.
Alys nickte stumm.
»Gut, dann bauen wir unseren Unterricht auf dieser Basis auf. Musstest du nach jedem Zwischenfall deine Arbeit sofort fortsetzen?«
»Ja, natürlich.« Alys wusste nicht recht, worauf Kelly hinauswollte. »Wenn Onkel sich über irgendetwas geärgert hat, kam er zu mir und schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Wenn ich mich danach einfach nur wieder aufrichtete und mit meiner Arbeit fortfuhr, knurrte er irgendetwas Vulgäres und stapfte davon, um sich jemanden zu suchen, der eine für ihn befriedigendere Reaktion zeigt. Und ich habe weiter die Hühner gefüttert oder sonst etwas getan.«
»Dann musst du Kung-Fu aus diesem Blickwinkel betrachten – als eine Arbeit, mit der du fortfahren musst, egal was in dem Kampf passiert.« Kelly nahm der jüngeren Frau den Saftbecher aus der Hand, stellte ihn auf den Tisch zurück und zog Alys dann in die Mitte der Filzmatte. »Okay. Ich werde dir jetzt eine Ohrfeige geben, und du verhältst dich so, wie wir es geübt haben, und wirfst mich direkt nach dem Schlag zu Boden. In Ordnung?«
Das trug ihr einen zweifelnden Blick der anderen Frau ein. »Du willst mich schlagen ?«
»Nicht fest, keine Sorge, und wir gehen ganz langsam vor, aber ich möchte, dass du dich sofort von dem Schreck erholst, meinen Arm packst, ihn verdrehst, dich duckst, mich über deine Hüfte rollst und dann zu Boden schleuderst. Und während ich am Boden liege, versetzt du mir einen Tritt gegen die Beine. Aber bitte auch nicht zu fest. So lautet die Aufgabe. Verstanden?«, fragte Kelly.
Alys blinzelte, durchdachte die Bewegungskombination noch einmal, prägte sie sich ein, holte tief Atem und nickte. »Verstanden.«
»Gut.« Kelly hob eine Hand und holte aus.
Ihre Handfläche traf Alys’ Wangen mit einem leisen Klatschen und streifte dann ihre Schulter. Alys’ Hände schossen vor, schlossen sich um Kellys Arm und drehten ihn auf ihren Rücken. Dann setzte sie Schultern und Hüften ein, um ihre Gegnerin zu Boden zu werfen. Kelly wehrte sich nicht, sondern landete widerstandslos auf der Matte. Alys hätte beinahe den nächsten Schritt vergessen, besann sich dann aber, verlagerte ihr Gewicht und trat mit der Ferse gegen den Oberschenkel der am Boden liegenden Frau.
»Sehr gut.« Kelly rollte sich zur Seite, gelangte auf die Füße, kam zu Alys zurück und versetzte ihr mit der anderen Hand einen Schlag. Und erstarrte dann und warf ihr einen auffordernden Blick zu. »Nun?«
»Oh!« Alys packte sie am Arm, schwang sie über ihre andere Hüfte und holte zu einem Tritt aus.
»Gut. Und jetzt noch einmal. Versuch jetzt, andere Körperteile zu treffen – aber immer noch langsam, und versuch, mich nicht zu verletzen … noch nicht.«
Sie vollführten die Übung noch einige Male, bis Kelly Alys aus der Fassung brachte, indem sie ihr einen unsanften Stoß gegen die Schulter versetzte, statt sie zu schlagen. Alys reagierte, obwohl der unerwartete Angriff sie zurücktaumeln ließ. Sie stürmte vor und stieß Kelly zurück, woraufhin der Rotschopf ihr diesmal etwas fester ins Gesicht schlug.
Ein Herumwirbeln, zupackende Hände, und Kelly landete rücklings auf der Matte. Im nächsten Moment traf Alys’ Fuß auch schon das Mattenstück zwischen Kellys gespreizten Schenkeln. Diese ließ die Beine wie eine Schere zuschnappen, brachte Alys aus dem Gleichgewicht und schickte sie gleichfalls auf die Matte. Alys riss sich los und sprang nach Atem ringend auf.
»Hervorragend«, lobte ihre Lehrerin, die sich ebenfalls aufrappelte. »Sehr gut. Als
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