Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
äußerst wertvoll, genau wie deine Erinnerungen. Ich benötige eine genaue Beschreibung der Insel.«
Er beendete das Gespräch mit einer knappen Handbewegung. Der Spiegel auf dem Tisch wurde einen Moment lang trübe und grau, dann wieder klar. Als ihm nur noch sein eigenes Gesicht entgegenstarrte, lehnte sich Morganen nachdenklich zurück. Was für Neuigkeiten kann er ›gekauft‹ haben, dass er glaubt, uns jetzt töten zu können, ohne befürchten zu müssen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden? Natürlich! Kelly hat mit einem Mitglied des Rates der Magier gesprochen. Sie wissen, dass zumindest eine Frau auf der Insel lebt, und das heißt, dass sie jetzt jeden Tag mit einem Unheil rechnen.
Das heißt auch, dass ich den Rat genauer im Auge behalten sollte. Vielleicht halten sie Doms Entführung für das prophezeite Unheil für zu unbedeutend.
Aber was hat er gemeint, als er seinem Bruder sagte, dessen Leben sei jetzt äußerst wertvoll für ihn? Sollte es nicht immer wertvoll gewesen sein? Natürlich war Broger nicht Morganen, der Verstand des Mannes war eine Jauchegrube, die Morganen nicht genauer erforschen wollte. Vielleicht sollte ich mit Alys sprechen, sie kennt ihn gut genug, um sich vorstellen zu können, was er vorhat. Mit Sicherheit weiß sie, welche Bestien er zuletzt in seiner Menagerie hatte und welche und wie viele Monster er uns bei seinem geplanten Großangriff auf den Hals hetzen kann.
Seine Mundwinkel krümmten sich nach oben, als er erwog, seine nächste zukünftige Schwägerin in eine private Unterhaltung zu verstricken. Vorausgesetzt, Wolfer versucht nicht schon, mich in Stücke zu reißen, nur weil ich es wage, sie anzusprechen, versteht sich …
»Oh!« Jauchzend gab Alys ihr Opfer frei. Ihre Hände flogen zu ihrem Mund. »Oh! Ich habe es geschafft!«
Die auf der Filzmatte liegende Kelly rollte sich auf die Seite, schob eine Hand unter ihre Wange und musterte ihre Schülerin mit hochgezogenen Brauen. »Das hast du allerdings, und du hast deine Sache sehr gut gemacht. Hinter dem Wurf saß Kraft und Schwung. Aber am Ende hast du auch einen Fehler gemacht.«
Alys krümmte sich. »So?«
»Genau das meine ich.« Kelly deutete auf sie, was Alys zusätzlich verwirrte. »Erst hast du dich gewundert, dass du überhaupt Erfolg hattest, und jetzt zuckst du bei dem Gedanken zusammen, etwas falsch gemacht zu haben. Du musst lernen, mehr auf deine Fähigkeiten zu vertrauen.« Sie rappelte sich hoch und klopfte ihre Trainigskleidung ab. Alys eilte zu ihr, um ihr aufzuhelfen.
Beide trugen schlichte Hosen und ärmellose Tuniken. Alys hatte die Wände des Raumes mit einem Kühlungszauber belegt, daher mussten sie Fenster und Tür geschlossen halten, damit die Lufttemperatur angenehm blieb, aber er verhinderte, dass sie während des Trainings allzu stark schwitzten. Kelly trat zu dem Tisch in der Ecke, trank den Rest ihres Saftes aus und schenkte sich aus dem Krug nach, den sie aus der Küche mitgebracht hatte. Dann salutierte sie, als sich die ebenfalls durstige Alys zu ihr gesellte.
»Du machst dich wirklich gut. Aber du musst noch lernen, die Bewegungen durchzuführen, ohne nachzudenken und ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Deine Aufmerksamkeit darf keinen Moment lang nachlassen«, mahnte sie. Ihre aquamarinblauen Augen funkelten. »Was, wenn ich dich erneut angegriffen hätte, während du noch den Umstand bestaunt hast, dass es dir gelungen ist, mich zu Boden zu werfen? Damit endet der Kampf nämlich nicht, vergiss das nie.«
»Aber du hast mir doch genau das Gegenteil gesagt, oder nicht?«, fragte Alys verdutzt. Diese Kung-Fu-Technik war doch sehr seltsam. Nützlich, das konnte sie nicht leugnen, aber seltsam.
»Ich sagte, es würde dir die Möglichkeit verschaffen, den Kampf zu beenden«, berichtigte Kelly sie. »Sowie der Gegner zu Boden gegangen ist, legst du nach, um ihn endgültig außer Gefecht zu setzen, und das tust du, während er versucht, Verteidigungshaltung einzunehmen. Bevor er sich verteidigen kann. Tritt ihn in die Rippen oder gegen die Kniescheibe. Tritt auf seine Hand oder in seine Leistengegend. Oder tritt ihn in den Hintern, Mädchen! Lass dem Angriff irgendetwas folgen, das ihn daran hindert, erneut auf dich loszugehen.«
Alys nickte. Sie wusste, dass ihre zukünftige Schwägerin recht hatte, aber es war schwer, gegen das anzukommen, was sie sich jahrelang anerzogen hatte – nicht zu reagieren, wenn sie angegriffen wurde, Misshandlungen regungslos
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