Der Kuss Im Kristall
dann wusste er, wen er fragen konnte. In welche Richtung er ermitteln sollte.
Und wie der Zufall es wollte, würde sie Mr. Renquist in weniger als einer Stunde im La Meilleure Robe treffen. Dann konnte sie ihm die Liste mit den Verabredungen ihrer Tante überreichen, und bald würden sie Antworten haben.
Kurz darauf stieg sie mit der Liste in ihrem weißen Pelzmuff die Treppe zur Straße hinunter. Ein Schwall kalter Luft raubte ihr beinahe den Atem und trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie um die Ecke bog, gegen irgendetwas Hartes prallte und zurücktaumelte.
Lord Glenross umfasste ihren Ellenbogen und hielt sie fest. „Verzeihung, Miss.“
Aletheas Kapuze war zurückgerutscht, und sie bemerkte, dass Glenross ebenso überrascht war wie sie. „Lord Glenross! Wie – ich meine, was – oje!“
Er warf einen Blick auf die Treppe. „Geht es Ihnen gut, Miss Lovejoy?“
„Ja, danke“, entgegnete sie wie erstarrt.
Er streckte den Arm aus und berührte ihre Wange. Danach hatte er eine Träne an der Fingerspitze. „Ich habe Ihnen doch nicht wehgetan, oder?“
„Oh nein, Mylord. Ich – ich habe nur gerade …“
„Sie erhielten schlechte Neuigkeiten?“
„Nein. Oh nein.“ Sie lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Ich dachte nur gerade, na ja, an die Saison und wie sehr ich mir wünschte, für die Feiertage wieder in Little Upton zu sein.“
„Heimweh, was?“ Er lächelte. „Eigener Herd ist Goldes wert.“
Lord Glenross nahm die Kapuze und setzte sie ihr wieder auf. Dabei zupfte er den Pelzbesatz so zurecht, dass er wieder ihr Gesicht umrahmte. Mit der behandschuhten Hand strich er dabei über ihre Wange, und sie hielt den Atem an, so sehr ließ seine Nähe ihr Herz schneller schlagen. Wieder warf er einen Blick zur Treppe, und sie vermutete, er war unterwegs zu Mr. Evans, um einen neuen Termin zu vereinbaren.
„Danke für Ihre Hilfe, Mylord. Ich – ich muss mich jetzt auf den Weg machen.“ Sie erschauerte und wich vor ihm zurück, eifrig bemüht, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Noch einmal nahm er ihren Ellenbogen und geleitete bis zu dem regen Fußgängerverkehr auf der Fleet Street. „Wo ist ihre Begleitung, Miss Lovejoy? Ihre Kutsche?“
„Ich bin eine Angestellte meiner Tante, Mylord. Ich habe keine Begleitung, und ich bin von ihrem Haus aus zu Fuß gegangen.“
„Mrs. Forbush hat erlaubt …“
„Sie wollte mich mit der Kutsche schicken, aber ich sagte ihr, ich könnte den Spaziergang nutzen, um ein wenig Bewegung an der frischen Luft zu genießen. Manchmal versucht sie, zu viel für mich zu tun, und ich muss sie daran erinnern, dass ich ihre Angestellte bin.“
Schneeregen setzte ein, und es wurde plötzlich recht dunkel. Wenn die Temperatur noch etwas sank, würde es stark anfangen zu schneien. Der Fußweg war bereits rutschig geworden, als der Schneematsch auf der glatten Oberfläche anfror. Alethea fröstelte und zog den Umhang ein wenig fester um sich.
Glenross’ Züge wurden weicher. „Ich glaube, ich ging eben an einer Teestube vorbei, und Sie sollten sich aufwärmen, Miss Lovejoy. Das Haus Ihrer Tante liegt nicht gerade um die Ecke.“ Als sie den Mund öffnete, um zu widersprechen, schüttelte er den Kopf.„Ich möchte keine Einwände hören. Wenn Sie morgen erfroren aufgefunden werden, würde ich mir das niemals verzeihen. Ich bitte Sie. Es ist beinahe Teezeit.“
Es blieb Alethea nichts anderes übrig, als ihm zu erlauben, sie das kurze Stück zu der Teestube zu begleiten. Als sie den Laden betraten, läutete eine kleine Glocke über der Tür, und aus dem Hinterzimmer kam eine Frau in einem schwarzen Kleid mit weißer Schürze und Haube.
„Willkommen“, sagte sie, und in ihrem Akzent war nur eine Spur Cockney zu hören. Sie führte sie zu einem kleinen abgeschiedenen Raum, in dem sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. Darin standen ein kleiner runder Tisch und zwei Stühle. Damen wurden nicht gemeinsam mit den übrigen Kunden bedient, und die meisten vornehmen Geschäfte boten ähnliche Separees für solche Zusammenkünfte. „Sie sind heute Nachmittag die Ersten“, erklärte sie und deutete damit an, dass niemand sie stören würde.
Alethea sah kurz ihren Begleiter an. Noch nie war sie mit einem Mann zum Tee aus gewesen. Auf dem Land gab es diese Möglichkeiten nicht, und seit ihrer Ankunft in London war sie ohnehin zu beschäftigt gewesen. Sie wusste, sie war ein unerfahrenes Landei, aber sie holte tief Luft und beschloss, der
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