Der Kuss Im Kristall
blendete seine Augen. Er wusste, wohin er unterwegs war, und er wusste, was er zu tun hatte. Er sah weder nach links noch nach rechts, sondern war so tief in Gedanken versunken, dass er kaum den Verkehrslärm wahrnahm, und auch nicht die Straßenverkäufer, die lautstark ihre Waren feilboten.
Er konnte Aletheas Vorwürfe nicht vergessen. Doch sie hatte sich geirrt. Er war nicht verzweifelt wegen des Todes von Maeve. Traurig, ja. Von Schuldgefühlen geplagt, weil er sie nicht geliebt hatte, ja. Doch Hamish war es, dessen Verlust ihn wirklich getroffen hatte. Bei der Erinnerung an das lächelnde blonde Kind schnürte es ihm die Kehle zu. Der Junge war fröhlich und klug gewesen, und sie hatten sehr aneinander gehangen. Nur einen Monat nach seiner Geburt hatte Rob schon nicht mehr daran gedacht, dass er nicht Hamishs Vater war, sondern hatte in ihm den Erben der McHughs gesehen. Maeve war eifersüchtig gewesen auf seine Beziehung zu dem Jungen, als hätte sie Hamish nur zur Welt gebracht, um ihn zu ärgern, und könnte es nun nicht ertragen, dass es ihm Freude bereitete, den Bastard eines anderen seinen Erben zu nennen.
Rob entsann sich nicht mehr – hatte es vielleicht nie gewusst – wodurch er sich Maeves Abscheu und ihren Hass zugezogen hatte. Da sie schwanger zu ihm gekommen war, erkannte er jetzt, dass sie ihn schon vor der Hochzeitsnacht gehasst haben musste. Innerhalb weniger Monate nach Hamishs Geburt hatte sie ihre unermüdlichen Tiraden gegen ihn begonnen und sich kalt und distanziert verhalten. Und dann hatte sie das Allerschlimmste getan, hatte ihn als „McHugh den Zerstörer“ beschimpft und als ein Tier, das unmäßige unnatürliche Triebe hatte. Damals war er bereit gewesen, die Schuld am Scheitern ihrer Ehe auf sich zu nehmen, weil er keine Erklärung dafür fand, wie das süße, reizende Mädchen seiner Jugend zu der kalten, zänkischen Frau in seinem Bett und seinem Leben werden konnte.
Dann war er Alethea Lovejoy begegnet. Alethea mit ihrem sanften Spott, ihrer Leidenschaft und ihrer schlichten Weisheit. Als Madame Zoe hatte sie ihm gesagt: „Wenn die Hoffnung stirbt, dann stirbt auch der Mensch.“ Meine Güte! Sie hatte recht gehabt. Er hatte es aufgegeben, jemals Frieden oder Ruhe zu finden. Aber hatte er die Hoffnung aufgegeben? Oder hatte er nur Angst vor der Hoffnung – Angst vor dem Risiko, das damit verbunden war, und den Gefühlen, die vielleicht von ihm verlangt werden konnten? Oder vor dem Schmerz, wenn sie erwidert würden?
Aber Alethea lächelte ihn an, forderte ihn heraus und scheute sich noch nicht einmal vor seinen Narben. Welcher Funke es auch immer sein mochte, den Maeve nicht ganz erstickt hatte, er war zu neuem Leben erwacht, und Rob sehnte sich wieder nach etwas. Mit der Sehnsucht kam das Verlangen, und mit dem Verlangen die Zuneigung. Das war nicht seine Absicht gewesen. Voller Zorn und Schuldgefühle hatte er sich dagegen gewehrt. Ja, er war vor den Gefühlen geflohen wie ein Wildpferd vor einem Waldbrand. Als ihm das nicht gelang, hatte er versucht, sich von der Liebe fernzuhalten. Narr, der er war, hatte er geglaubt, seine Lust von seiner Liebe für Alethea trennen zu können. Er hatte sich getäuscht.
Durch Alethea erkannte er, dass Maeve ihre eigenen Dämonen bekämpft hatte. Die arme Maeve. Sie hatte zugelassen, dass ihr Zorn und ihre Verbitterung die Familie zerstörten. Trotz allem, was sie ihm und Hamish angetan hatte, konnte er ihr verzeihen und sie bedauern. Sie war nicht dazu in der Lage gewesen, alte Kränkungen und Wunden zu vergessen und glücklich werden zu können.
Vor dem St. James’ Palace blieb er stehen und blickte über die Straße hinweg zur Queen’s Chapel. Es war Maeves Lieblingsplatz gewesen. Wenn sie sich in London aufhielt, hatte sie dort den Sonntagsgottesdienst besucht. Es war ein kleines Gebäude in klassischem Stil und von eleganter Schönheit. Der Schnee verdeckte den Londoner Schmutz und verlieh der Kapelle eine märchenhafte Erscheinung, die zu dem Moment passte.
Die Zeit war gekommen, Maeve und Hamish zur Ruhe zu betten. Er überquerte die Straße. Endlich fühlte er sich dazu bereit, die Anordnungen zu einer Gedenkfeier zu treffen.
Alethea legte gerade letzte Hand an ihr Kleid, als sie hörte, wie Graces Zofe leise an ihre Tür klopfte und ihr mitteilte, dass Mrs. Forbush sie im Frühstückszimmer erwartete. Alethea warf einen Blick auf die kleine Uhr auf ihrem Frisiertisch. Es war erst halb zehn. Wenn Grace und Dianthe auf
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